Die Geschichte des deutschen Fernsehens umfaßt aber mehr als BRD und DDR: Hickethier beginnt nach einem einleitenden Überblick Fernsehgeschichte als Teil der Mediengeschichte seine chronologisch gegliederte Darstellung mit einem kurzen Kapitel über die technischen Erfindungen von 1884 bis 1933, von den ersten technischen Laborversuchen bis zum Fernsehversuchsbetrieb der Reichspost. Dem eher unpolitischen Kapitel folgt der Einbezug in die Propaganda des Dritten Reichs mit der weltweit ersten, überstürzten offiziellen Eröffnung des Versuchsbetriebs am 22.3.1935, der Übertragung von Sportereignissen der Olympiade 1936 und ersten Fernsehspielproduktionen, Unterhaltung und "Zeitdiensten" zunächst für den Gemeinschaftsempfang in sog. Fernsehstuben, bis der Krieg die Versuche für den privaten Sektor verdrängte und nur noch Truppenbetreuung in Berliner Lazaretten zuließ. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung trennt Hickethier die chronologische Darstellung in zwei Stränge je für West und Ost, die wieder in ähnlicher, aber doch je eigener Periodisierung miteinander verflochten werden. Er beginnt die Darstellung für den Westen mit dem Aufbau des NWDR-Fernsehens 1948 bis 1954, für den Osten folgt ein Kapitel von Peter Hoff über die Anfänge des DDR-Fernsehens als "kollektiver Organisator" 1947 bis 1956. Von Hickethier schließt danach ein Kapitel für die Bundesrepublik Industrialisierung der Fernsehproduktion 1954 bis 1962 an, von Hoff für die DDR Auf dem Wege zum Massenmedium 1956 bis 1961. Die nächsten Perioden umfassen für die BRD Zwischen Lebenshilfe und politischer Aufklärung 1963 bis 1973 und für die DDR Zwischen Mauerbau und VIII. Parteitag 1961 bis 1971. Ihnen folgen Im Vorfeld der Kommerzialisierung für die Bundesrepublik 1973 bis 1983 und Zwischen neuem Aufbruch und Untergang für die DDR 1971 bis 1989 (damit endet die Mitarbeit von Peter Hoff). Für die BRD läßt Hickethier ein Kapitel Zeiten des Übergangs 1984 bis 1991 folgen, danach Auf dem Wege zur Einheit 1989 bis 1991 mit Schwerpunkt auf den Ereignissen in der DDR resp. in den neuen Bundesländern. Ein Kapitel für die neunziger Jahre Am Ende einer Epoche, vom analogen zum digitalen Fernsehen beschließt die historische Darstellung.
Jeder Versuch einer Unterteilung historischer Abläufe enthält
Zündstoff für Diskussionen, vor allem, wenn so diffizil voneinander
getrennte und vielfältig aufeinander bezogene politisch-historische
und mediale Entwicklungen von ihr betroffen sind. Zumindest
bemerkenswert ist, daß Hickethier die politische Zäsur von 1968/1969
für den Westen Deutschlands übergeht und dafür einen "weichen"
Einschnitt 1973, vor dem Rücktritt Willy Brandts vom Amt des
Bundeskanzlers setzt. In seinem historischen Abriß von 1993 hatte
Hichethier durchaus eine Veränderung um 1969 berücksichtigt,[3] und auch
Peter Hoff hatte die Zäsuren für das DDR-Fernsehen anders gesetzt,
- beides ist offensichtlich zugunsten einer zeitlich längeren
Periodisierung geändert worden und sei hier auch nur angemerkt, um die
relative Beliebigkeit und Anfechtbarkeit solcher Abschnittsetzungen
hervorzuheben. Eine durchgängige Trennung der Darstellung der
Entwicklungen in West und Ost hätte für die chronologischen Abschnitte
mehr Freiheit und auch größere Angemessenheit bringen können, zumal
der Umfang und die Intensität der Darstellung deutlich die BRD betont
und bevorzugt (mit ungefähr doppeltem Seitenumfang gegenüber der DDR).
Die Zeit der "Wende" in der DDR, ihr Beitritt zur Bundesrepublik und
das erste gemeinsame Jahr - 1989 bis 1991 - ist für Hickethier vor
allem in Bezug auf den Osten Deutschlands bemerkenswert, - das
Zusammenführen der historischen Stränge nach 1991 in eine gemeinsame
Darstellung von Ost und West ist insofern durchaus willkürlich und
wird auch nicht durch ein besonderes Ereignis oder eine besondere
Entwicklungsänderung zu diesem Zeitpunkt begründet. Das Kapitel geht
denn auch vornehmlich auf jüngste Entwicklungen in der zweiten Hälfte
der neunziger Jahre ein.
Hickethier beginnt die chronologischen Kapitel jeweils mit einem
internationalen Überblick, geht dann auf medienpolitische, später auch
wirtschaftspolitische und immer auf programmpolitische Entwicklungen,
ausführlich auch auf einzelne Programme und Sendungen ein und schließt
jeweils mit Anmerkungen zur Programmästhetik und zu
Mentalitätsänderungen, Änderungen in der Wahrnehmung und zur Bedeutung
des Fernsehens für die Öffentlichkeit. Der Text ist flüssig und
durchaus summarisch und deutlich wertend formuliert, Belege und
Hinweise auf weitere Literatur werden in den Text relativ pauschal
(ohne genaue Seitenangaben) eingeflochten. Unterstützt wird der Ablauf
des Textes durch "Randnotizen", d.i. kurze Stich- und Schlagwörter,
die den Inhalt eines Absatzes andeuten. Aufgelockert wird der
Fließtext durch zwei Typen von Illustrationen (alle schwarz-weiß),
d.i. durch zahlreiche etwa halbseitige Photographien - meist
Standbilder oder Studio-"Set"-Aufnahmen - und durch erheblich
kleinere, etwa briefmarkengroße Abbildungen ähnlichen Inhalts am
äußeren Seitenrand, dazu kommen einige Tabellen und Übersichten. Den
Anhang bildet ein sehr umfangreiches Literaturverzeichnis (gegliedert
in unveröffentlichte Quellen, Reihen, Bücher und Aufsätze), auf das
sich die Hinweise im Darstellungsteil beziehen (allerdings ohne dort
anzugeben, in welchem Abschnitt des Literaturverzeichnisses der
Hinweis aufgelöst wird). Das Titelverzeichnis mag man trotzdem als
umfangreichen Belegapparat akzeptieren, als aktiv zu nutzender
Literaturapparat ist es aber wegen der jeweils nur alphabetischen
Folge bei einem Umfang von über 750 Titeln nicht geeignet. Zum Anhang
gehören noch ein Register von ca. 3500 Personennamen und ein Register
der Sendungen und Reihen im Umfang von ca. 4000 Titeln sowie ein
Bildquellenverzeichnis. Das sehr ausführliche Inhaltsverzeichnis
gliedert die Stoffülle bis ins Detail, kann aber das fehlende
Sachregister nicht ersetzen. Ein Sachregister der Genres und
Programmformen, der Fernsehanstalten, der juristischen und politischen
Auseinandersetzungen etc. hätte die Nutzung des Buches erleichtert und
verbessert, hätte das Buch noch mehr zu einem Nachschlagewerk werden
lassen.
Hickethier nimmt den von Foucault und Deleuze entlehnten Ansatz, eine
Mediengeschichte des Fernsehens als Geschichte eines "Dispositivs" zu
schreiben, ernst: "Dispositive der Wahrnehmung umfassen dabei nicht
nur die jeweiligen Apparate und Techniken, sondern auch die
räumlichen, architektonischen, situationalen und lebensweltlichen
Bedingungen sowie auch die juristischen, ethischen und sonstigen
normsetzenden Rahmungen. In ihnen konstituiert sich das Subjekt, wird
dessen mediale Wahrnehmung präformiert" (S. 11). Man mag darüber
streiten, ob dieser umfassende Ansatz überhaupt zu verwirklichen ist,
aber in ihm birgt sich der Anspruch, in einem großen Entwurf und aus
einer Hand ein Panorama zu entwerfen, in dem wir uns als Betroffene
und Akteure wiederfinden und mit dem wir uns auseinandersetzen können.
Hickethier ist es gelungen, einen solchen Entwurf vorzulegen, seine
Geschichte des deutschen Fernsehens zu schreiben. Sie wird nicht
unumstritten sein, aber an ihr werden sich mögliche andere Entwürfe
messen müssen.
Wilbert Ubbens
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