Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Moderne. Zwar werden auch
traditionelle Grundbegriffe wie Emblematik und Synekdoche, Katharsis
und Melancholie, Historismus und Mimesis erklärt (hierzu zählen auch
Konzepte philosophischer Provenienz wie Mythos oder Natur), doch
überwiegen 'moderne' Termini, einschließlich der hinreichend
berücksichtigten Leitvokabeln jüngerer und jüngster (hermeneutischer)
Entwicklungen, wie Avantgarde, Dekonstruktivismus,
Deviationsstilistik, Gay and Lesbian Studies, Gegen-den-Strich-Lesen,
Gender Studies, Kulturökologie, Materialität der Kommunikation,
Mentalitätsgeschichte, New Historicism, Phallozentrismus,
Populärkultur, Postkoloniale Literaturtheorie und -kritik oder
Sprechakttheorie. Ein besonderes Gewicht liegt auf medienbezogenen
Stichwörtern wie Computerphilologie, Filmsemiotik, Massenmedien,
Medienkulturwissenschaft oder Photographie und Literatur (Konzept
Literaturwissenschaft als Medienwissenschaft). Wie sehr Literatur-,
Medien- und Kulturtheorie längst anthropologisch akzentuiert sind,
wird in den Darstellungen von Begriffen wie Kultursemiotik oder
Literarische Anthropologie deutlich. Sehr viele Termini sind von einem
Hauptrepräsentanten der Literatur- und Kulturtheorie geprägte zentrale
Begriffe oder werden von den Beiträgern primär auf einen Autor
bezogen, z.B. Différance/Différence (Derrida) oder Zirkulation
(Greenblatt). Zur Eröffnung einer historischen Dimension werden die
literaturtheoretischen Positionen früherer Zeiten in Epochen-Artikeln
u.a. zu Mittelalter, Renaissance oder Romantik gebündelt. Gut, daß ein
Artikel Begehren aufgenommen wurde; bedauerlich, daß Artikel wie
"Absenz", "Lust", "Montage" oder "Offenheit" bzw. "Offene und
geschlossene Texte" fehlen. Sie und so manche Termini Bachtins (z.B.
Brechung) oder französischer Theoretiker wie Derrida (z.B. Urschrift)
findet man im übrigen bei Jeremy Hawthorn.[1]
Autoren-Artikel - dies ein weiteres Lemma-Genre des Nachschlagewerks -
finden sich zu so unterschiedlichen Theoretikern wie Baudrillard,
Bourdieu, Eisenstein, Foucault, Jakobson, Panofsky, Sartre,
Starobinski, Todorov, aber auch zu 'Klassikern' wie Horaz oder Platon.
Deutschsprachige Theoretiker sind ebenfalls reichlich vertreten, nicht
nur solche der 'ersten Garnitur' wie Cassirer und Habermas, sondern
auch Autoren wie Peter Bürger und Siegfried J. Schmidt, die
gelegentlich eine allzu wohlwollende oder gar überschwengliche
Bewertung erfahren (cf. Friedrich Kittler, S. 259): ein Sprechen pro
domo, das augenscheinlich der weitgehenden Nichtbeachtung
deutschsprachiger Autoren in einer durch angelsächsische Hegemonie
bestimmten scientific community, die oft bestenfalls noch französische
Einflüsse gelten läßt, entgegenwirken soll.
Dem Gegenstand des Lexikons entsprechend sind die Artikel nicht immer
einfach zu lesen; der Spagat zwischen der notwendigen Wahrung von
Komplexität bei der konzisen Darstellung diffiziler Themen und dem
Wunsch nach didaktisch geschickter, gefälliger Vermittlung ist in
vielen Artikeln erkennbar. Das Ergebnis fällt - bedingt auch durch den
unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad der einzelnen Themen -
unterschiedlich aus. So findet sich neben dem beispielreich,
alltagsnah und plastisch erklärten Begriffspaar Ikon/Ikonizität (nun
verfügt die Semiotik ja auch über eine reiche Exempelkultur) ein
überaus abstrakter Artikel über Hybridität, der von den auch
anvisierten Studienanfängern wohl kaum verstanden werden wird.
Erfreulicherweise scheuen die Autoren in so manchen Fällen vor
zutreffenden, kräftigen Akzentuierungen und profilierten Wertungen
nicht zurück (z.B. Virilio als "verkappter Theologe", S. 554). Bei
einigen Autorenartikeln wird man allerdings die Frage, ob die
Darstellung die Lust auf die Lektüre der vorgestellten Theoretiker
wecken könnte, leider verneinen müssen, so im Falle von Aby M.
Warburg, dessen faszinierende Themen, Ideen, Konzepte und Dikta wie
Denkraum, Schlagbild, Pathosformel, "Der liebe Gott steckt im Detail"
oder Festkultur nicht oder nur unzureichend herausgestellt werden.
Eher schon als Ermunterung zur Werklektüre kann hingegen der Artikel
zu Hans Blumenberg gewertet werden.
Die über eine Vielzahl interner Verweisungen verknüpften Artikel sind
gezeichnet (Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, S. 583
- 584) und enthalten Hinweise auf weiterführende Literatur (dazu auch
Auswahlbibliographie literatur- und kulturtheoretischer Werke, S. 585
- 593), freilich nicht immer in gewünschter Vielfalt (nur zwei Titel
zu Habitus, nur einer zum zur Zeit so stark diskutierten
philosophischen Konzept der Kontingenz.[2]
Nicht Gegenstand der vorliegenden Besprechung kann die Gefahr sein,
die durch die allzu bereitwillige Entgrenzung des Literaturbegriffs
und des Diskurses der Kulturwissenschaften droht - u.a. in einer
Rezension des vorliegenden Nachschlagewerkes beschrieben als "Anmaßung
von Allzuständigkeit, eine Art theoretische Elefantiasis". Aus
bibliothekarischer Sicht muß allerdings vermerkt werden, daß dem
Wandel der 'Geisteswissenschaften' zu 'Kulturwissenschaften', der
anthropologisch umfassenden Perspektive auf Literatur und der
programmatischen Erweiterung des Literaturbegriffs, wie sie als
Tendenz der letzten Jahrzehnte im vorliegenden Lexikon nahezu in jedem
Artikel deutlich werden, kontraproduktive Etatkürzungen in den meisten
Bibliotheken gegenüberstehen, die dem durch neuere
literaturtheoretische Prämissen und Ansätze ausgelösten
Literaturhunger nicht gerecht werden können. Als einer geglückten
Kombination von Autoren- und Begriffslexikon dürfte dem vielfältig
anregenden, umfassenden und zugleich handlichen Metzler-Lexikon
Literatur- und Kulturtheorie ein Platz im unverzichtbaren
Informationsbestand einer jeden Universalbibliothek, aber auch jeder
größeren öffentlichen Bibliothek sicher sein, bietet es doch eine
Schneise durch den Theorie-Dschungel von Alterität über Isotopie und
Palimpsest bis zu Xenologie und erläutert somit in der Tat jene
Begriffe, die "in den etablierten Lexika der literarischen
Terminologie [...] weitgehend unberücksichtigt bleiben" (S. VI).
Werner Bies
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