Zuwachs erhielt dieser Grundbestand (von dem in der Ausstellung fünf Exponate gezeigt wurden, nämlich die Katalog-Nr. 4 - 5, 6 [zwei Stücke] und 7) 1803 durch die Säkularisation bayerischer Klöster (wie Tegernsee, Benediktbeuern und Polling), die im Zuge der geistigen Auseinandersetzung mit den außerchristlichen Religionen auch in den Besitz von Koranhandschriften gelangt waren (Katalog-Nr. 9 und 19). Durch den Umzug der Mannheimer Hofbibliothek zu Beginn des 19. Jahrhunderts, gelangte eine weitere Kostbarkeit nach München (Katalog-Nr. 20). Ganz bedeutend vergrößert wurde dieser Grundstock allerdings in den vergangenen drei Jahrzehnten durch den inzwischen pensionierten Leiter der Handschriftenabteilung, Karl Dachs. Von den in der Ausstellung präsentierten Prachtkoranen erwarb die Handschriftenabteilung der Bibliothek unter seiner Leitung seit 1966 immerhin 25 weitere, sehr bedeutende Stücke, die jetzt im Katalog unter den Nummern 1 - 3, 8, 10 - 17, 20 - 21, 23 - 26, 27 [drei Stücke], 28 - 31 beschrieben sind.
Zusammen mit den Altbeständen und diesen Neuerwerbungen rückte die Bayerische Staatsbibliothek mit ihrer Kollektion von Koranhandschriften in die Spitzengruppe der Sammlungen außerhalb der islamischen Welt auf. Neben der privaten Nasser D. Khalili Collection in London, besitzen vergleichbare Bestände nur noch die British Library (London), die Chester Beatty Library (Dublin), die Bibliothèque Nationale (Paris) und die Vatikanbibliothek.
Einen Teil ihres Koranbestandes machte die Bayerische Staatsbibliothek
im vergangenen Jahr in einer Sonderausstellung unter dem Titel
Prachtkorane aus tausend Jahren vom 7. Oktober bis 28. November 1998
- erstmalig in Deutschland - einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.[5]
Unter der redaktionellen Leitung von Karl Dachs publizierte die BSB
parallel zur Ausstellung den gleichnamigen Katalog, dessen Konzeption
(und die der Ausstellung) gemeinsam von Helga Rebhahn und Winfried
Riesterer erarbeitet wurde. Präsentiert wurden 35 Exponate. Ergänzend
zu dieser Auswahl aus der Schatzkammer wurden kostbare frühe
Korandrucke sowie Schreibmaterialien und Bindegerätschaften aus
islamischen Ländern vorgestellt. Ein Manko im begleitenden Katalog
ist, daß dieser Teil der Präsentation leider nicht beschrieben und
publiziert wird.
Die beschriebenen Stücke (darunter: zwei Koranfragmente
[zusammengefaßt unter der Katalog-Nr. 6] sowie drei Miniaturkorane mit
Amulettcharakter [zusammengefaßt unter der Katalog-Nr. 27]) werden
alle in Photos von sehr guter Farbqualität abgebildet. Warum
allerdings die Katalog-Nr. 13 und der eine Miniaturkoran unter der Nr.
27 nicht auch noch mit reproduziert wurden, ist nicht ganz
verständlich. An der Blattgröße kann es jedenfalls nicht gelegen
haben, denn alle Stücke wurden (zum Teil stark) verkleinert. Bedingt
durch die große chronologische Spannbreite, die zudem glücklicherweise
fast alle Stilrichtungen islamischer Buchkunst umfaßt, ermöglichen es
die Abbildungen, gemeinsam mit den Beschreibungen - auch dem
Nichtfachmann - die ornamentale Kunst und Kultur islamischer
Kalligraphie grob einzuordnen und in etwa zu bestimmen. Vertreten
sind: die Kerngebiete der arabischen Zivilisation, das maurische
Spanien mit seinem Maghreb, der Iran, das osmanische Reich sowie das
islamische Indien zur Zeit der Mogulkaiser.
Den Meistern der Kalligraphie ebenbürtig waren die Meister der
Einbandkunst. Schrift und Einband werden häufig zu einem
Gesamtkunstwerk vereint. Der Katalog zeigt davon fünf Beispiele
(Katalog-Nrn. 20, 25 - 26, 27 [ein Miniaturkoran] und 30), die
Hochachtung und Bewunderung bei dem Betrachter erwecken. Künstlerische
Stilrichtungen lassen sich hieraus allerdings nicht ableiten.
Nun ist es aber nicht Aufgabe dieses Kataloges - der mehr für ein
allgemeines Publikum als für den Orientalisten bestimmt ist
- Detailfragen zu stellen und zu klären. Dennoch ist anzumerken, daß
weder die Titelüberschrift "Goldkoran" (Katalog-Nr. 3) und in der
dazugehörigen Beschreibung der Ausdruck "Blauer Koran" befremdend, ja
nicht korrekt sind. Diese Wortschöpfungen treffen zwar werbewirksam
den umgänglichen Sprachgebrauch, sind aber in keiner Weise haltbar.
Sogar der internationale Handel, der auf kommerzielle Aspekte achten
muß, verzichtet auf solche Vereinfachungen. Es hat nie "Goldkorane"
oder "Blaue Korane" gegeben! Vom Koran, dem heiligen Buch des Islam,
gibt es nur Abschriften, die auf farbig eingefärbtem - oder farbig
grundiertem - Pergament oder Papier geschrieben wurden. Je nach der
gebrauchten Technik, heißt es demnach korrekterweise (auch in der
entsprechenden Fachliteratur) "Koran auf Papier mit Goldgrundierung"
oder "Koran auf blau eingefärbtem Pergament". Desungeachtet: Der
Katalog will generell informieren und Interesse wecken. Diese
Intention wird erfüllt, und somit gehört er in den Handapparat einer
jeden Bibliothek, die sich mit Islamica beschäftigt.
Marc-Edouard Enay
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