Den vierfarbigen Faksimile-Wiedergaben - die Autographen sind, wo immer dies möglich war, in der Originalgröße reproduziert - steht jeweils ein kleiner Essay gegenüber, der auch eine Transkription enthält. Vom vorgegebenen Umfang abgesehen, haben die Verfasser der Essays offensichtlich große Freiheit der Gestaltung gehabt. Das Ergebnis ist ein erfrischender Wechsel: Bald machen biographische Details, die zum Verständnis des Faksimiles nötig sind, bald die Materialisierung eines Textes in dem handgeschriebenen Blatt selbst, bald die Entstehungsgeschichte eines Werks, bald seine Aufnahme bei anderen Personen, etwa Verlegern, den jeweiligen Kern der Essays aus. Zu Kabinettstücken der Literaturgeschichtsschreibung sind sie alle geworden.
Wo Herausgeber und Bearbeiter für die Präsentation der Hand eines Dichters Briefe ausgewählt haben, nehmen sie in den Essays allemal die Gelegenheit, aus einem Stück der Korrespondenz kleine Skizzen zu Absender und Empfänger anzufertigen. Unter den Dokumenten sind Briefe von Jakob Michael Reinhold Lenz an Charlotte von Stein; Matthias Claudius an Johann Martin Miller, Gottfried August Bürger an Friedrich Leopold zu Stolberg, Novalis an Bürger, Johann Gottfried Seume und Heinrich von Kleist an Johann Friedrich Cotta, Theodor Storm an den Verlag der J. G. Cottaschen Buchhandlung, Friedrich Hebbel an Ludwig Uhland, Gottfried Keller an Conrad Ferdinand Meyer, Nelly Sachs an Alfred Andersch, Thomas Bernhard an Hilde Spiel u.v.a.m.
Gleich auf mehreren Ebenen findet - wegen der Gunst des ausgewählten Briefes von E.T.A. Hoffmann an Friedrich de la Motte Fouqué - das Spiel der Bezüge zwischen den Briefpartnern im Begleittext statt: Als Komponist der von Fouqués Märchen angeregten Oper Undine wird Hoffmann eingeführt, dann gleitet der Essay zwanglos zu dem Briefwechsel zwischen dem Baron Wallborn und dem Kapellmeister Kreisler, zwei Figuren aus Dichtungen Fouqués und Hoffmann, der als beider Gemeinschaftswerk in der Zeitschrift die Musen herausgekommen waren, und weiter zur Aufführungsgeschichte der Undine-Oper. Zum Erfolg der Uraufführung dieser ersten eigentlich romantischen Oper im Jahre 1816, am Geburtstag des Königs, trugen auch die Bühnenbilder Karl Friedrich Schinkels wesentlich bei, die ein Jahr später beim Brand des Berliner Schauspielhauses vernichtet wurden - vor den Augen Hoffmanns, der das Feuer aus dem Fenster seiner Wohnung am Gendarmenmarkt beobachtete. Noch eine Zeile mehr, und der Leser hätte auch noch erfahren, daß es das Fenster aus Hoffmanns kleiner Erzählung von Des Vetters Eckfenster gewesen ist. Nur wer hoffnungslos im Kerker der Theorie gefangen ist, kann leugnen, daß Literaturgeschichte ohne solche anekdotischen Details lebendig werden könnte.
Auf ganz andere Weise wird die Beziehung zwischen zwei Autoren erhellt, indem Arthur Schnitzler mit dem Manuskript der Grabrede auf seinen frühen Förderer Otto Brahm von 1912 repräsentiert ist.
Für das Auge des Kenners, der mit Leben und Werk der ausgewählten Dichter vertraut ist, bieten die Handschriftenproben schon deshalb ein besonderes Vergnügen, weil die Betrachtung geläufige Vorstellungen nicht selten falsifiziert. Da kann ein bekanntermaßen äußerst nervöser Autor eine scheinbar ganz ruhige Hand führen. Umgekehrt merkt man einer im Wechsel von Rundung und Steilheit scheinbar so stilisierten Schrift wie derjenigen C. F. Meyers erschüttert an, wie der labile Autor jeden Buchstabe hinstellt, als suche er daran Halt.
Die Einführung des Herausgebers reflektiert so kompetent wie launig auch die Folgen, die sich nach dem vergleichsweise harmlosen Einzug der Schreibmaschine nunmehr durch die PC-Revolution in der Schriftstellerwerkstatt für die Überlieferung respektive Nicht-Mehr-Überlieferung von Dichterautographen zu zeigen beginnen.
Hans-Albrecht Koch