Die Vermehrung der Bestände stellt in Verbindung mit der vorzüglichen Erschließung den überzeugenden Ausweis dar, mit welchem Erfolg das 1955 gegründete Deutsche Literaturarchiv seinen Auftrag erfüllt, "die handschriftlichen wie gedruckten Quellen der neueren und der gegenwärtigen Literatur deutscher Sprache durch Sammlung zu sichern und durch Verzeichnung, wissenschaftliche Bearbeitung, durch Ausstellungen und Editionen zu erschließen" (Bernd Zeller in der Vorrede zur 1. Aufl.).
Von 150 Nachlässen und Sammlungen bei Gründung war der Handschriftenfundus bis zum Erscheinen der 1. Ausg. bereits auf 570 Einheiten angewachsen und umfaßte Ende 1997 - dies ist der Redaktionsschluß der Neuausgabe - bereits über 1000. Kaum ein bedeutender Name aus der klassischen Moderne und der Nachkriegszeit fehlt, einschließlich einer steigenden Zahl von sogenannten "Vorlässen"; je eigene Schwerpunkte mit unschätzbaren Quellen zum literarischen Leben bilden die Archive von Verlagen (neben Cotta u.a. S. Fischer, Eugen Diederichs, Julius Zeitler, Insel, Albert Lange, Georg Müller, Eugen Claassen, Tempel-Klassiker, Luchterhand) und von Zeitschriftenredaktionen (Pan, Corona, Merkur, Neue deutsche Hefte, Text + Kritik, Kürbiskern u.a.m.). Dazu kommen die einschlägigen Bestände an Nachlässen respektive Sammlungen, die aus gelehrter Arbeit stammen und denen das Archiv seit geraumer Zeit verstärkte Aufmerksamkeit widmet. Zuweilen - so etwa im Falle des Rilke-Forschers Ernst Zinn oder des Zeitschriftenherausgebers Heinz Ludwig Arnold - sind sie unmittelbar mit den literarischen Quellen im engeren Sinne verknüpft.
Die Anlage des Bandes weist gegenüber der früheren Ausgabe keine wesentlichen Änderungen auf; sie spiegelt die bewährte Marbacher Erschließungssystematik (abgedruckt S. XX) mit ihren Kategorien Manuskripte, Briefe und Zugehörige Materialien (mit jeweils weiteren Untergliederungen) in stark komprimierter Form und bietet mit einer durchdachten Verweisungstechnik zusätzliche Suchhilfen. Vom Umfang vermittelt die Anzahl der berühmten "grünen Kästen" eine erste grobe Vorstellung. Bleibt zu hoffen, daß all die künftigen "Könige", die darauf weiterbauen, dessen eingedenk sein mögen, welche "Kärrnerarbeit" hier zu ihrem Nutzen vorab geleistet worden ist.
Die hohe Kompetenz der Bearbeitung, welche die Grenze von der technischen Formalbeschreibung zur inhaltlichen Analyse weit überschreitet, zeigt sich ganz besonders in der schwierigen Auswahl der Namen und Werke, die bei der Beschreibung einzelner Nachlässe und Sammlungen explizit aufgeführt werden und das eigentlich charakterisierende Element einer jeden Eintragung ausmachen. Der eingeschlagene Mittelweg meidet die drohende Skylla der Trivialität, die sich auf die bekanntesten Personen beschränkt hätte, ebenso wie die Charybdis der Quisquilien, die noch den entlegensten Namen erwähnt hätte. Immerhin weit über 14.000 Registerpositionen von natürlichen Personen, Zeitschriften, Institutionen usw. weist der Index der Namen nach, der als zweiter Teilband ausgegliedert ist und um ein Register nach den Geburtsjahren der Nachlasser ergänzt wird.
Neben der gedruckten Version besteht für die Neuauflage die
Möglichkeit der Online-Recherche im Internet.[1] Die
Internet-Präsentation zeichnet sich durch ein übersichtliches Layout
und eine angenehme und hilfreiche Führung durch die Suchangebote aus.
In dieser elektronischen Publikation werden künftig einmal jährlich
die Neuzugänge eingebracht. Welchen Gewinn an Information diese
Entscheidung bedeutet, läßt sich allein schon daran ermessen, daß nach
Redaktionsschluß so gewichtige Zugänge wie das Archiv des Piper
Verlags oder Nachlässe bspw. zu Erich Kästner, Karl Kerényi u.a.m.
gehören.
Ob sich die Marbacher bei der Namensgebung für ihr elektronisches
Katalogsystem KALLIAS (Katalog des Deutschen Literaturarchivs) wohl an
einen Ausspruch von Maurice Line, dem früheren Director General der
British Library Lending Division in Boston Spa, erinnert haben, der in
den 80er Jahren mit Blick auf allerlei EU-Projekte, die in schönem
Wechsel bald scheiterten, bald reüssierten, einmal scherzhaft gemeint
hatte, im wissenschaftlichen Bibliothekswesen hätten nur solche
Vorhaben eine gute Aussicht auf Erfolg, die einen griechischen Namen
führten? Wie dem auch immer sei, die Benennung hyperkuss für das
spezielle Internetangebot ist ein besonders hübscher Einfall.
Wissenschaft kann auch nach Nietzsche fröhlich sein.
In einer kurzen Einführung in die Nachlaß-Sammlung des Deutschen
Literaturarchivs berührt Jochen Meyer - mit der bekannten und von
ihrer Klientel so geschätzten Verbindung von Fürsorge und Dezenz der
Marbacher - auch das delikate Problem der Benutzung von gesperrtem
Material. Allzu verständlich ist dies, denn das höchste Kapital, das
sich die Institution im Laufe der Zeit erworben hat, ist das Vertrauen
der potentiellen Geber: Autoren, Erben, Sammler, Verleger oder
Zeitschriftenherausgeber; noch verständlicher aber angesichts der
Begehrlichkeiten, die ein Findbuch wie das vorliegende bei dem "in
sein Thema, seinen Gegenstand, seinen Autor verliebten Forscher" (J.
Meyer) unweigerlich wecken muß. Gegen die Hindernisse, die das
Urheberrecht manch allzu stürmischer Leidenschaft entgegenstellt,
hilft nur die laufend aktualisierte Adressenkartei der Erben und
anderer Inhaber bzw. Verwalter von Rechten.
Nach stundenlangem Blättern drängt sich auch noch der Verdacht auf,
dies in so vieler Hinsicht exzeptionelle Werk könnte auch das
empirische Gesetz falsifizieren, daß ganz frei von Druckfehlern nur
diejenigen Bücher sind, die nie erscheinen.
Man nehme dieses Verzeichnis - zu Recht nennt Ulrich Ott es im Vorwort
"das Bild einer stolzen Sammlung" - nicht einfach schnöde als
"Benutzer" in die Hand, sondern nähere sich ihm als Leser. Rasch
verwandelt sich dann vor dem inneren Auge das unermeßliche Gräberfeld
der Namen, das man vielleicht nur mit dem Interesse gelehrter
Nekrophilie betreten hat, in einen Festplatz, auf dem auferstandene
Geister uns noch einmal ihr Leben vorspielen. Wie spannend allein
schon zu sehen, wer da etwa mit wem - - - Briefe gewechselt hat. Man
könnte dabei auf die Idee kommen, daß Literatur nicht von Autoren,
Verlagen oder Kritikern gemacht wird, sondern von "wirklichen,
richtigen Menschen" (Hugo von Hofmannsthal).
Daher die Bitte, trotz der für die Tagesarbeit willkommenen jährlichen
Aktualisierung über das Internet dies - nicht zuletzt wegen seiner
typographischen Gestaltung und wegen der auflockernden Abbildungen
- wunderbare Lesebuch auch künftig von Zeit zu Zeit ganz traditionell
zwischen zwei Buchdeckeln herauszubringen. In solcher Hoffnung
verneigt sich der Rezensent namens einer ganzen Disziplin, die sich
die Bearbeiterin verpflichtet hat, dankbar und bewundernd zum
"Hyperhandkuß".
Hans-Albrecht Koch
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