Neben die geistesgeschichtliche Analyse der Werke, der die italienische Germanistik unter dem Einfluß Benedetto Croces lange und fast ausschließlich gehuldigt hat, haben sich neue Fragen gedrängt, die dem Verhältnis der Literatur zu anderen Bereichen gelten, als deren Inbegriff sich der im Titel verwendete Ausdruck "civiltà letteraria" vorzüglich eignet. Dazu gehören Themen wie die folgenden: Städtische und literarische Kultur im mehrsprachigen Umfeld (z.B. in Prag), Autorenvereinigungen von den barocken Sprachgesellschaften bis zum Grazer Forum, Tendenzen literarischer Regionalisierung und Gegenbewegungen dazu (z.B. in der Anti-Heimatliteratur), Literaten als Helfer und Gegner der Diktaturen usw.
In zahlreichen Studien hat sich der Herausgeber in die erwähnten neuen Fragen selbst eingeschaltet: Als man in Deutschland Adolph Freiherrn Knigge noch für nichts als den Autor eines vermeintlichen "Benimmbuches" hielt, verfaßte Freschi bereits eine Monographie über den politischen Knigge; in Triest, einer Stadt der Kontakte mehrerer Kulturen, geboren, hat Freschi für die Osmose deutscher und slawischer Kultur im Prag Kafkas einen so geschärften Blick entwickelt, wie ihn unter den Italienern zuvor nur Giani Stuparich gehabt hat, der 1915 mit seinem Buch La nazione ceca in Italien einen bis dahin unbekannten Bereich des mitteleuropäischen Geisteslebens bekanntgemacht hatte; und eines seiner jüngsten Bücher gilt der Literatur bzw. Un-Literatur im Dritten Reich. Man merkt dem Konzept der neuen Literaturgeschichte an, wie sehr der Herausgeber durch eigene Forschungen mit den jeweils spezifischen Problemen der verschiedenen Epochen vertraut ist.
Der Periodisierung ist ganz pragmatisch folgende Einteilung in sechs Abschnitte zugrundegelegt: 1. Von den Anfängen bis zur Reformation; 2. Reformation, Humanismus, Barock; 3. Von der Aufklärung zur klassisch-romantischen Epoche; 4. 19. Jahrhundert; 5. Frühes 20. Jahrhundert; 6. Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (also die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, das italienische "secondo novecento" läßt sich wörtlich nicht übersetzen).
Die weitere Untergliederung in Kapitel verfeinert teils die
chronologische Einteilung, teils dient sie zur Aufnahme spezieller
Themen: So ist z.B. der Philosophie des Idealismus ein eigenes Kapitel
gewidmet - eine der glücklich angelegten Verknüpfungen mit nicht
unmittelbar zur Literatur gehörenden Bereichen, deren Kenntnis
gleichwohl zu deren angemessenem Verständnis unentbehrlich ist. Indem
aufeinanderfolgen (1.) das im engeren Sinne literaturgeschichtliche
Kapitel zur Romantik von Emilia Fiandra, die es vorzüglich versteht,
die Zusammenfassung der Texte mit Interpretationen, biographischen und
sozialgeschichtlichen Aspekten zu verbinden bzw. sie vor den Augen des
Lesers auseinander zu entwickeln, und (2.) die luzide Einführung in
den Idealismus aus der Feder des Hegel-Forschers Valerio Verra, werden
die ganz spezifischen Konturen beider Gegenstände, der Literatur und
der Philosophie, sichtbar. Zugleich wird aber auch ein überzeugendes
Bild von ihrer engen Verschränkung als einem wesentlichen Merkmal der
deutschen Romantik entfaltet. Für italienische Studenten ist dies
alles um so wichtiger, als sie aus der Kenntnis ihrer
muttersprachlichen Literatur ein (von dem Dichter Alessandro Manzoni
geprägtes) Verständnis der Romantik mitbringen, das dem
Facettenreichtum der mit diesem Wort bezeichneten deutschen Literatur
nicht gerecht wird, zumal wesentliche Autoren der deutschen Romantik
in Italien erst relativ spät im 19. Jahrhundert - vor allem durch die
Scapigliati - rezipiert wurden, als der Begriff durch Manzoni bereits
bestimmt war. Auch ein so exzentrischer Text wie der "Anti-Roman" der
Nachtwachen des Bonaventura ist nur zu verstehen, wenn man die darin
enthaltene Kritik an den transzendentalphilosophischen Voraussetzungen
des frühromantischen Subjektivismus erkennt. Zu Recht widmet die
Verfasserin der Hauptgestalt Kreuzgang als dem Träger ironischer
Parodie romantischer Gefühlsschwärmerei großen Raum. Zu vorsichtig
noch ist sie bei der Verfasserfrage; denn inzwischen ist der brillante
Indizienbeweis, mit dem Jost Schillemeit 1973 den Braunschweiger
Theaterleiter August Klingemann als Autor ausgemacht hat, durch die in
Amsterdam aufgetauchten und von Ruth Haag veröffentlichten[2] Briefe
Klingemanns auch durch Dokumente erhärtet.
Analoge Funktionen wie das Idealismus-Kapitel erfüllt für das
Verständnis der irrationalen Züge der literarischen Moderne im
allgemeinen oder der Problematik des Vitalismus im besonderen - dessen
zentrale Bedeutung für G. Hauptmann E. Fiandra mehrfach betont - die
ausführliche Darstellung Nietzsches und des "nietzscheanesimo", die
der bekannte Nietzsche-Forscher Aldo Venturelli geschrieben hat.
In der Feingliederung der Kapitel hat der Herausgeber den Autoren
große Freiheit gelassen. Während Roberto de Pol das 17. Jahrhundert in
der Folge der Gattungen abhandelt, wechseln in Antonio Pasinatos
Darstellung der Epoche von Restauration, Biedermeier und Vormärz
Abschnitte zu einzelnen Autoren mit solchen zu Genres wie der
Dorfgeschichte oder zu Problemen, z.B. zu den Spiegelungen der
nationalen oder sozialen Frage in der Lyrik und in der Prosa. Mehrfach
wählt Pasinato Überschriften wie "Heine und die nationale Frage" oder
"Heine und die politische Lyrik". Darin liegt überhaupt ein großer
Vorzug des neuen Werks, daß es sich nicht scheut, in entschiedener
Wertung die herausragenden Autoren auch als solche zu benennen, sie
zugleich aber auch exemplarisch zum Referenzpunkt für die Klärung
allgemeiner und übergreifender Themen zu machen.
Das Werk wird eröffnet mit einem souveränen Überblick von 150 Seiten
zur mittelalterlichen deutschen Literatur, den die als Übersetzerin
deutscher Literatur dieser Epoche, aber auch als Romanautorin
hervorgetretene Mediävistin Laura Mancinelli verfaßt hat. Die Gewichte
sind vortrefflich verteilt zwischen eher panoramahaften und sehr
detaillierten Passagen, vor allem zu einzelnen Werken. Mit
bewundernswertem didaktischem Geschick führt Mancinelli den Leser im
Abschnitt zum Nibelungenlied fast unmerklich hin und her zwischen
Nacherzählung und gattungsästhetischen Problemen, zwischen Einführung
in das historische und historisierend dargebotene Sujet und den
Deutungen der Forschung; so nimmt sie z.B. einen schönen Einfall des
so früh verstorbenen großen Philologen Giorgio Dolfini in ihre
Interpretation auf, der die Überquerung des Rheins durch die Burgunder
als symbolischen Wechsel aus dem Reich der Lebenden in das der Toten
gedeutet und in der Gestalt des Anführers Hagen eine Art Charon der
Verstorbenen gesehen und damit die tragische Dimension dieses Epos
benannt hat.
Wo Mancinelli, zwar eher beiläufig, von Hartmanns Iwein handelt, sähe
man gern ein oder zwei Abbildungen aus dem Freskenzyklus von etwa
1205, den Nicol• Rasmo 1972 in der Burg Rodenegg bei Brixen entdeckt
hat und der als geschlossene Komposition über vier Wände eines zu
ebener Erde gelegenen kleinen Saals Szenen zur ersten Abenteuerrunde
bis zum Bund mit Laudine umfaßt. Enthalten doch beide Bände mehrere
zwischengeschaltete Bildstrecken mit vorzüglich ausgewählten
Beispielen für illuminierte Handschriften, Titelblätter,
Autorenporträts, Kupferstichillustrationen, Theaterinszenierungen
usw.
Für die österreichische Literatur der Moderne hat der Herausgeber mit
Wendelin Schmidt-Dengler einen der besten Kenner gewonnen, dessen
Texte von Matilde de Pasquale in ein schönes Italienisch übersetzt
worden sind. Das persönliche Profil zeigt sich in Schmidt-Denglers
Beiträgen nicht nur in den Akzenten, sondern zuweilen auch in den
Auslassungen: Daß - selbst in einem Abschnitt, der L'addio agli
Asburgo überschrieben ist - aus Hofmannsthals operndramatischem
Schaffen weder der Rosenkavalier noch die Arabella erwähnt werden,
verblüfft angesichts der Tatsache, daß dieser Autor auf der Bühne vor
allem durch die von Richard Strauss vertonten Werke lebendig geblieben
ist.
Dabei wird den Beziehungen zwischen Literatur und Musik - gewiß auch
dies eine versteckte Hommage an Mittner, der in Bezug auf diese
Schwesterkunst der Poesie ähnlich verfahren war - besondere
Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Schmuckstück wie Orazio Mulas etwa
80seitiger Essay Il rapporto col testo nella muscia tedesca da Haydn
alla dissoluzione della tonalità findet sich in keiner der im
deutschen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten erschienenen
Literaturgeschichten. Unnötig zu betonen, daß in diesem Kontext auch
Richard Wagners Bedeutung für die Literatur angemessen gewürdigt
wird.
Mit der für die Rezension getroffenen Auswahl der Belegbeispiele
geschieht anderen Beiträgen des Werks Unrecht. Vieles wäre noch
hervorzuheben, etwa die gründliche Berücksichtigung der
frühaufklärerischen Lehrdichtung durch Stefan Nienhaus oder im Beitrag
von Luca Crescenzi die geschickte Präsentation des wegen seiner
schwierigen und anspielungsreichen Diktion so gern übergangenen Johann
Georg Hamann, von dem Goethe 1774 zu Lavater bekannte, er habe von
niemandem soviel gelernt wie von Hamann, und den er noch im Alter
gesprächsweise gegenüber dem Kanzler Müller als den "hellsten Kopf"
seiner Epoche bezeichnete. Noch nicht in den Blick genommen (auch in
der Bibliographie Bd. 1, S. 357 - 358 wird das Werk nicht erwähnt)
sind die Ergebnisse des großangelegten annalistischen
Quellenrepertoriums Bibliographia dramatica et dramaticorum von
Reinhart Meyer,[3] die im Hinblick auf das Theater unsere geläufigen
Vorstellungen vom 18. Jahrhundert auf den Kopf stellen: nicht
Gottsched oder sein Kontrahent Lessing waren die meistgespielten
Autoren auf deutschen Bühnen, sondern - hier wirkt sich allein schon
in der Statistik das gegenüber dem protestantischen Norden viel regere
Theaterlebens im katholischen Süden aus - mit großem Abstand vor allen
anderen der Italiener Pietro Metastasio: Welch hübscher Treppenwitz,
daß diese Entdeckung einem deutschen Germanisten zu danken ist.
Wenigstens erwähnt seien noch der gründliche Beitrag von Annette
Berndt zum Hörspiel und der abschließende Überblick, den Pier Carlo
Bontempelli zur Geschichte der Germanistik von 1800 bis 1990 bietet.
Sehr richtig bezieht der Verfasser dort die sogenannte werkimmanente
Interpretation der Nachkriegszeit auf ihren internationalen Kontext,
während in deutschen Publikationen diese Methode zuweilen noch als
eine bewußte politische Enthaltsamkeit der Nachkriegsgermanistik
mißdeutet wird. Bontempellis Skizze endet freilich gerade dort, wo
künftige germanistische Zeitgeschichte noch viel genauer hinschauen
muß: Nach 1990 ist am Skandal um den Aachener Germanisten und
Hochschulrektor Hans Schwerte alias SS-Offizier Hans-Ernst Schneider
und an den Dokumenten zur Drangsalierung der Greifswalder Germanistin
Hildegard Emmel durch die DDR-Germanistik-Funktionäre Helmut
Holtzbauer und Hans-Jürgen Geerdts erkennbar geworden, wieviel
deutsche Vergangenheit im Fach noch aufzuarbeiten ist. Nach dem ersten
Exil in der Türkei, wo die Wissenschaftlerin Zuflucht vor den
Nationalsozialisten fand, mußte sie nach der Mitarbeit am
Goethe-Wörterbuch und einer Dozentur in Greifswald ein zweites Mal
emigrieren, ehe sie schließlich in den USA eine Anstellung fand und
ihre große Geschichte des deutschen Romans (1972 - 1978) schrieb.
Da man dem von Freschi herausgegebenen opus magnum mit ziemlicher
Gewißheit weitere Auflagen prognostizieren kann, sei ein kleiner
Wunschzettel angehängt: Ganz oben steht ein vergleichbar schöner Essay
zum Verhältnis von Literatur und Bildender Kunst, wie ihn Mula für die
Musik geschrieben hat. Ein wenig Vereinheitlichung vertrügen die
bibliographischen Anhänge zu den einzelnen Abschnitten. Sie variieren
formal von eher knappen Kurztiteln bis zu fast vollständigen
Titelaufnahmen, wie sie Crescenzi dem Abschnitt zur Goethezeit
beigibt. Die Bibliographien konzentrieren sich - von wenigen Ausnahmen
abgesehen, wo Editionen zitiert sind - auf die Forschungsliteratur.
Mit Blick auf den primären Adressatenkreis sind italienische
Publikationen besonders ausführlich berücksichtigt, doch werden
überall auch Hinweise auf einschlägige Arbeiten in deutscher oder auch
anderen Sprachen hinzugefügt. Selten einmal scheinen ganz wesentliche
Titel übersehen.[4]
Natürlich ist das Werk für italienische Leser geschrieben. Das
rechtfertigt auch die vom Herausgeber explizit begründete
Entscheidung, aus der großen Zahl der Schriftsteller - vor allem für
die Gegenwartsliteratur - statt eines bloßen name dropping solche
Autoren ausführlicher zu behandeln, deren Werke in italienischer
Übersetzung vorliegen. So mag man unter den Lyrikern Elisabeth
Borchers oder Durs Grünbein noch vermissen, unter den Erzählern etwa
auch W. G. Sebald. Solche Dinge sind in ständigem Fluß. Dagegen steht
fest, daß diese Literaturgeschichte wegen ihres Informationsgehalts
und ihrer gelungenen Anlage - die einzelnen Teile sind besser
verbunden, als dies in Sammelwerken mehrerer Verfasser üblich ist,
zugleich aber wird durch den essayistischen Stil der Beiträge die
Ödnis des Handbuchwissens vermieden - für kommende
Studentengenerationen in Italien die würdige Nachfolge des Mittner
antreten wird. Grund genug, sie der Aufmerksamkeit auch der deutschen
Germanistik nachhaltig zu empfehlen.
Gabriella Rovagnati
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