Da gilt die Aufmerksamkeit z.B. dem Paradoxon des literarischen Leben, daß die Werke der prominenten Vertreter der Wiener Moderne - allen voran Arthur Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthals - im Berliner Verlag Samuel Fischers erschienen, da es für die österreichischen Schriftsteller trotz ihrer Produktivität in der Donau-Metropole keinen Verlag von überregionaler Bedeutung gab; subtil werden die - z.T. bis in die wissenschaftlichen Darstellungen unserer Tage nachwirkenden - Stereotypen analysiert, mit denen die Literatur- und Theaterkritik des Fin de siècle die Eigenheiten der literarischen Produktion in Berlin und Wien zu erfassen meinte, wenn sie sich etwa der Gegenüberstellung von Begriffstriaden wie "Kampf, Nüchternheit und Arbeit" und "Anmut, Spiel und Pose" bediente oder gar zu dem noch einfacheren Schema von "männlich-weiblich" griff. Wie eng das literarische Leben mit politischer Ideologie verflochten war, zeigt die zum ersten Mal anhand der Dokumente dargestellte Verleihung des Grillparzer-Preises an Gerhart Hauptmann. Denn für die Juroren dieses von einem Damenkomitee 1871 zu Grillparzers 80. Geburtstag gestifteten Preises war der schlesische Dichter keineswegs ein "Ausländer". Die Statuten sahen eine Besetzung des Preisgerichts durch Vertreter dreier Wiener Institutionen vor, zu denen zwei "namhafte Schriftsteller" hinzutreten sollten, einer aus "Süddeutschland oder Österreich", der andere aus Norddeutschland. Der zweite Sitz wurde immer von einem Wiener eingenommen, und so bewahrte die Zusammensetzung der Jury die historisch längst überholte Bipolarität der deutschen Nation aus jenen Jahrzehnten, als Österreich und Preußen im Deutschen Bund um den Vorrang kämpften; im Grillparzer-Preis führte nachgerade die von der Politik verabschiedete großdeutsche Lösung ein literarisches Nachleben.
Was Sprengel zusammen mit seinen Mitarbeitern der Forschung an neuen Einsichten hinzugewonnen hat, findet in seiner Literaturgeschichte der Zeit von 1870 - 1900 unmittelbaren Niederschlag. Er gliedert seine Darstellung nach vier Gattungen (Erzählprosa und Versepik, Dramatik, Lyrik und nicht-fiktionale Prosa), innerhalb dieser Kapitel sind - mit Ausnahme des letzten - die gewaltigen Stoffmassen jeweils regional in der Folge Schweiz, Österreich, Deutschland geordnet. Der - an Quellenbelegen reiche - Text verbindet überzeugende Argumentation mit luzidem Stil, so daß die Lektüre ein Vergnügen bereitet, wie man es aus gelehrten Büchern nicht eben oft erfährt.
Das gilt ganz besonders für das auf 150 Seiten als Einleitung gebotene Porträt einer Epoche. Souverän verteilt auf vier Themen (Tendenzen der Zeit, Geistige Grundlagen, Stile und Richtungen, Institutionen des literarischen Lebens) berichtet der Autor über alles, was zur verständigen Lektüre der Texte unentbehrlich ist: Kulturkampf, Verstädterung, Arbeiter- und Frauenbewegung, Judentum zwischen Assimilation und Zionismus; philosophischen Pessimismus, Monismus und Allsexualität, Positivismus und Empiriokritizismus, Psychologie; Naturalismus, Impressionismus, Ästhetizismus und Fin-de-siècle-Dekadenz; Schriftstellervereinigungen, Verlage, Zensur usw. - ein historiographisches Kabinettstück von Rang, wie man seinesgleichen nicht leicht findet.
Die knapp 60 Seiten umfassende und sehr aktuelle Bibliographie (sie
reicht bis 1997) beweist in der Auswahl dieselbe hohe Kennerschaft,
die den Text des Bandes kennzeichnet. Gelegentlich vermißt man den
einen oder anderen Titel aus der ausländischen Germanistik, die gerade
zur Erforschung dieser Epoche der deutschen Literatur, deren eines
hervorstechendes Merkmal die intensiven Literaturbeziehungen über die
Sprachgrenzen hinweg gewesen ist, mit bemerkenswerten Arbeiten
beigetragen hat, hier aber nur mit vergleichsweise wenigen Titeln
meist amerikanischer Autoren vertreten ist. Im allgemeinen Teil folgen
die Rubriken der Bibliographie etwa der Gliederung des Bandes, der
personalbibliographische Teil ist alphabetisch nach den Namen der
behandelten Schriftsteller geordnet. Unnötig zu betonen, daß die
Titelaufnahmen auch in formaler Hinsicht große Sorgfalt zeigen.[2]
Hans-Albrecht Koch
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