Die Organisatoren der Marbacher Ausstellung Protest! : Literatur um 1968 (und Autoren des dazugehörigen Katalogs) haben aus dieser Einsicht ihre Konsequenzen gezogen. Aufgrund der "Vielschichtigkeit der Studentenbewegung und der mit ihr verbundenen Literatur" seien "Ausstellung und Katalog" ihrer Disposition nach "nicht von einer chronologisch-linearen Abfolge bestimmt" (S. 8). Literaturgeschichte wird hier also nicht im Fluß aufeinanderfolgender Ereignisse präsentiert, sondern in der Art eines Kaleidoskops, das Momentaufnahmen, Konstellationen und Bilder einer Epoche bietet.
Daß dabei eine terra incognita betreten würde - "Als Expedition in
bisher unbegangene Zonen möge denn verstanden werden, was sich dem
¯Protest® der Achtundsechziger-Bewegung dreißig Jahre später ablesen
läßt" (S. 5) - darf man als Werbung in eigener Sache nehmen. Nicht,
daß das Thema schon weitgehend erschlossen wäre, aber es gibt doch
eine ganze Reihe ernstzunehmender und äußerst aufschlußreicher
Publikationen, die erkennen lassen, daß hier wahrlich kein Neuland
mehr zu explorieren ist.[2] Kaum eine der diesbezüglichen Untersuchungen
hat jedoch derart aus dem Vollen schöpfen können wie die Marbacher.
Sie waren und sind in der glücklichen Lage, einen gewissermaßen
privilegierten Zugang zum Thema zu haben, konnten sie doch auf einen
eigenen Material-Fundus zurückgreifen, der seinesgleichen sucht. So
wurden denn für die Ausstellung vor allem auch die eigenen Archivalien
ausgewertet und benutzt: die Archive des März- sowie der literarischen
und soziologischen Abteilungen des Luchterhand-Verlages, die
Redaktionspapiere der Zeitschrift Kürbiskern, die sog. Vorlässe sowie
Sammlungen und Nachlässe (u.a.) von Uwe Friesel, Günter Herburger,
Peter Rühmkorf, umfangreiche Zeitungsausschnittssammlungen, Rundfunk-
und Fernsehmaterialien, Plakat- und Bildsammlungen.
Den Auftakt zur Ausstellung bildeten bewegte Bilder, die sich über
entsprechende technische Apparaturen abrufen ließen. Einen solchen,
durchaus plastischeren Eindruck, wie ihn die filmischen Dokumente von
den politischen und kulturellen Ereignissen, Auseinandersetzungen,
Diskussionen und Debatten jener Jahre vermitteln, vermag ein
gedrucktes Werk bei aller Vielzahl reproduzierter Photographien nicht
annähernd zu erreichen. (Im Zeitalter hochentwickelter und
mittlerweile erschwinglicher Computer-Technologie wünschte man sich
freilich, auch das würde einmal in Form einer CD-ROM mitgeliefert.) So
bietet der Katalog "nur" das, was sich schwarz auf weiß (oder auch
farbig) auf papiernen Seiten fixieren ließ. Das ist freilich alles
andere als wenig. Diese mittlerweile 51. Dokumentation Marbacher
Jahresausstellungen entfaltet Gegenstände und Fragestellungen in
sieben Hauptkapiteln (denen insgesamt 30 Einzeldarstellungen
zugeordnet sind). Escalation (S. 11 - 86) ist das erste überschrieben,
und in vielerlei Hinsicht bietet es eine Ein- oder besser gesagt:
Hinführung zum Thema. In ihm läßt Ulrich Ott noch einmal wesentliche
politische und literarische Ereignisse der Jahre zwischen der
Ermordung Kennedys und dem Pariser Mai bzw. Prager Frühling Revue
passieren. Darauf folgen vier "querschnittsartig[e]" (S. 8)
Darstellungen. Die erste, Berliner Gemeinplätze (S. 87 - 180), widmet
sich im Verfolg des "Wider- und Zusammenspiel[s]" (S. 8) zwischen
Literatur und Studentenbewegung vorrangig der Frage, wieweit die
Literatur seinerzeit die politische Entwicklung reflektierte und in
welchem Maße sie möglicherweise den Gang der Dinge auch beeinflußte.
Das zweite Kapitel Avantgarde und Subkultur (S. 181 - 261) bietet
einen Querschnitt aus Politik und Literatur von den Situationisten der
50er Jahre bis hin zu Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygullas
ACID. Dem dritten und vierten Querschnitt zwischengeschaltet ist das
Kapitel Kunst als Ware in der Bewußtseinsindustrie (S. 262 - 360), in
dem die wachsende Politisierung verschiedener Segmente des
Kulturlebens (Theater, Buchmarkt und -messen, das Phänomen der
Raubdrucke u.a.) veranschaulicht wird. Der postmoderne Impuls (S. 361
- 428) illustriert die Tragweite von Leslie A. Fiedlers Plädoyer für
eine Erweiterung des überkommenen Literaturbegriffs. Und das vierte
und letzte dieser Hauptkapitel (Re-Visionen, S. 429 - 512) ist, in
Fortsetzung bzw. "kontrastive[m] Ringschluß zu den Berliner
Gemeinplätzen" (S. 9), den Auswirkungen des studentischen Protests auf
die Literatur der 70er Jahre gewidmet. Abgerundet wird dieses
polit-kulturelle Panorama von einem Kapitel Emanzipationen (S. 513
- 592), in dem einige der wesentlichen sozialen Veränderungen, wie sie
der Studentenaufruhr von 1968 mit sich brachte (Neudefinition der
traditionellen Rollenteilung zwischen Frau und Mann, antiautoritäre
Verhaltensweisen, Frauenbewegung) und deren Reflexe in der Literatur
zur Darstellung gelangen. Beschlossen wird das Ganze durch einen
umfangreichen Essay, der gewissermaßen ein vorläufiges Resümee zieht:
Helmuth Kiesels Literatur um 1968 : politischer Protest und
postmoderner Impuls (S. 593 - 640).
Für Ausstellung und Katalog zeichnen insgesamt fünf Autoren
verantwortlich, die unterschiedlichen Generationen angehören. Das
bedingt, daß hier kein einheitliches Bild entworfen wird. Ein solches
freilich geben weder die Ereignisse selbst her, noch würde es dem
Thema zum Guten ausgeschlagen haben. Denn eines der Kennzeichen gerade
jener bewegten Jahre war eben auch, daß Inkonsistenz und Widersprüche
ein produktives Moment bildeten.
Wenn man dieser Veröffentlichung Solidität bescheinigt, so ist das
nicht gleichbedeutend mit vorbehaltlosem Einverständnis. Es sind gewiß
mehr als nur vereinzelte Fälle, in denen man sich an den
Einschätzungen und Interpretationen der Autoren stößt, bisweilen auch
die Kriterien zur Auswahl der Dokumente in Frage stellen möchte.
Niemand wird die Bedeutung moderner (Unterhaltungs-)Musik für die
Generation von 1968 unter- oder auch nur geringschätzen wollen - doch
worin die besondere Bedeutung dieses hilflosen Liebesbriefes Jimi
Hendrix' an Uschi Obermaier bestehen soll (vgl. S. 162 - 164), das
kommt beim Besucher der Ausstellung bzw. dem Leser dieses Katalogs
- um es hier ein wenig salopp zu sagen: - nicht "herüber". Auch dürfte
die Gewichtung, die hier einzelnen Themen zuteil wurde, nicht nur
Zustimmung finden: der Raubdruck als ein überaus wichtiges
intellektuelles "Sozialisations"-medium und -mittel hätte ein wenig
mehr Strukturierung und Informationsdichte vertragen.
Das alles benimmt dieser Veröffentlichung freilich kaum etwas - vor
allem nicht das große Verdienst, in der literaturgeschichtlichen
Darstellung nachahmenswerte Wege beschritten zu haben. Denn das ist
diese Publikation vor allem: ein recht unkonventioneller, doch umso
stimulierenderer Versuch, Historie (und sei es auch nur in der Form
von Literaturgeschichte) nicht in der Absicht darzubieten, ein wie
immer geartetes Wesentliches oder "Eigentliches" - womöglich einen
neuen Kanon dessen, was man sozusagen "zur Kenntnis zu nehmen hat"
- hervorzutreiben, das sich dann gar noch in lineare
Darstellungsschemata zwängen läßt. Vielmehr stellt jede Unebenheit,
jede Einzelheit und jeder Einzelaspekt, den man in Frage stellen
möchte, eine Anregung zum Weiterarbeiten, Weiterdenken, Weiterforschen
dar. Und damit treibt diese Veröffentlichung nicht nur "auf sehr
eigene Weise Literaturgeschichte" (S. 5), sondern damit - so möchte
man wenigstens hoffen - gewinnt sie dem Leser ein wenig von jener
Motivation und Neugier zurück, die vom Überangebot und Überfluß an
Informationen förmlich erstickt werden.
Momme Brodersen
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