Der Zusatz zum Sachtitel "Neubearbeitung des Reallexikons der
deutschen Literaturgeschichte" trifft nur dann zu, wenn man ein völlig
neu konzipiertes Werk in die Tradition eines früheren Werkes aus
demselben Verlag stellt. War die 1. Aufl. 1925 - 1931 in 4 Bd. des
nach den Herausgebern als Merker/Stammler zitierten Lexikons Zeugnis
der damaligen germanistischen Literaturgeschichte, wie man das Fach
nach dem Gegenstand benannte, so geriet die 1958 von Werner
Kohlschmidt und Wolfgang Mohr begonnene, bis Bd. 3 (1977) bearbeitete
und von Klaus Kanzog und Achim Masser mit Bd. 4 (1984) fortgeführte
und zu Ende gebrachte 2. Aufl. in den großen Umbruch des Faches seit
dem Ende der 60er Jahre, so daß sich in manchen Artikeln des letzten
Bandes eine ganz andere Germanistik präsentiert als in den
vorhergehenden. Diese Brüche auch in der Terminologie waren der Grund
dafür, daß der abschließende Registerband[1] erst Ende 1988 erscheinen
konnte. Die in dessen Rezension als Desiderat bezeichnete "3. Aufl.,
die allerdings viel rascher abgeschlossen werden müßte", wurde von
einem ganz neuen Team in Angriff genommen, und im März 1997 mit dem
hier verspätet vorgestellten Bd. 1 in die Tat umgesetzt. Was den
Abschluß des auf drei Bänden angelegten Werkes betrifft, so scheint
sich dieser doch länger als vorgesehen hinauszuzögern, nannten die
Herausgeber in dem weiter unten zitierten Interview von 1997 noch das
Jahr 1999 und der Verlag in einer Voranzeige das Jahr 2000 als
Erscheinungstermin des letzten Bandes, so lag bis November 1999 allein
Bd. 1 vor.
Die Neukonzeption wurde von mehreren programmatischen
Zeitschriften-Publikationen der Herausgeber begleitet,[2] deren Resümee
man im Vorwort zu Bd. 1 unter der Überschrift Über das neue
Reallexikon (S. VII - VIII) nachlesen kann: Der Begriff deutsche
Literaturwissenschaft tritt an die Stelle deutsche
Literaturgeschichte, da "es untunlich (ist), eine Wissenschaft mit
demselben Wort zu bezeichnen, wie ihren Gegenstandsbereich." Ziel des
RLW (so die von den Herausgebern gewählte Abkürzung) ist eine
"lexikalische Darstellung des Sprachgebrauchs der Wissenschaft, d.h.
des Faches 'Deutsche Literaturwissenschaft'," die Antwort auf die
Frage "'Was versteht man unter ...?'" geben soll, also "seit wann und
in welchem Sinne" ein bestimmter Begriff "unter
Literaturwissenschaftlern in Gebrauch ist." Als Begriffswörterbuch
strebt das RLW "eine möglichst vollständige und systematische
Bestandsaufnahme des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs (an),
hat aber sein eigentliches Ziel darin, ihn zu präzisieren," ohne
Partei "für eine bestimmte Richtung des Faches" zu ergreifen.
Der Nutzung des RLW als "Thesaurus wissenschaftsgeschichtlich
reflektierter Gebrauchsvorschläge" dient die streng eingehaltene
Gliederung jedes Artikels in folgende typographisch markierte
Rubriken: Auf das Lemma und eine Elementardefinition[3] folgt 1. die
Explikation (Sigle: Expl) als Versuch eines "historisch gestützten
Gebrauchsvorschlags", der letztlich auf den nachfolgenden Rubriken
aufbaut; 2. Wortgeschichte (WortG); 3. Begriffsgeschichte (BegrG); 4.
Sachgeschichte (SachG); 5. Forschungsgeschichte (ForschG); 6. den
Abschluß bildet eine auf zitierte und wichtige Titel beschränkte
Literaturliste (Lit), doch wird z.T. auch bereits im Anschluß an die
Rubriken einschlägige Literatur zitiert.
Dieses Schema sei an Hand des der Mehrzahl der Leser von IFB
vertrauten Begriffs Bibliographie exemplifiziert, der, ebenso wie der
Artikel Bibliothek, von der über die engere Literaturwissenschaft
hinausreichenden Konzeption des RLW zeugt; beide Artikel stammen im
übrigen von Verfassern, die als Bibliographen und Bibliothekare
ausgewiesen sind.
Bibliographie: "Verzeichnis und Erschließungsinstrument von
Schrifttum, im weiteren Sinne auch dessen Erstellung und Benutzung."
- Expl: [3/4 Sp.] "Verzeichnung von Schrifttum, das 'selbständig' (als
Buch) oder 'unselbständig' (z.B. als Zeitschriftenaufsatz) erschienen
ist, nach bestimmten Ordnungskriterien." Es folgt eine Typologie der
Bibliographie nach sechs Einteilungskriterien, wie sie
Bibliotheksschülern vertraut ist. - WortG: [1/4 Sp.] ganz knapp vom
"seltenen griech. Wort" bis zum modernen Gebrauch seit G. Naudé; auf
den weiten Begriff im anglo-amerikanischen Gebrauch mit den
Ausprägungen "'critical bibliography, analytical bibliography'" wird
zwar hingewiesen, doch ist zu bezweifeln, ob das Nicht-Fachleute in
Anbetracht der Knappheit verstehen werden: vielleicht später beim
Lesen des Artikels Textkritik, auf den verwiesen wird; einschlägige
englischsprachige Titel zu diesem speziellen Punkt fehlen in der
Literaturliste. - BegrG: [3/4 Sp.] behandelt werden primär
konkurrierende Begriffe bis hin zur 'Literärgeschichte'. - SachG: [3
Sp.] die mit ihren zwangsweise willkürlich anmutenden Exempla von
Allgemeinbibliographien, Rezensionszeitschriften,
Schriftstellerlexika, Allgemeinbiographien, (laufenden)
germanistischen Fachbibliographien und Exempla für die "starke Tendenz
zur Spezialisierung und Berücksichtigung eines erweiterten
Literaturbegriffs"[4] höchst unbefriedigend bleibt, was nicht am
Artikelschreiber liegt, sondern daran, daß man eine über 2000jährige
"Sachgeschichte" (selbst wenn man sie auf die Zeit seit dem 17. Jh.
beschneidet) nicht auf so knapp bemessenem Raum sinnvoll darstellen
kann. - ForschG: [1/4 Sp.] sie läßt sich in dem einleitenden Diktum
resümieren: "Der Erforschung der Bibliographie ist abträglich, daß
Theoretiker der Bibliographie sich im allgemeinen ebenso wenig um die
Verwirklichung ihrer Ideen kümmern, wie die Praktiker sich auf die
Theorie einlassen." - Lit: [1/2 Sp.] 15 Monographien und Aufsätze (bis
auf einen englischsprachigen sämtlich deutschsprachig) im Alphabet der
Verfasser.
Die vom vorgegebenen Schema geforderte Trennung von Begriffs- und
Sachgeschichte wirkt in vielen Artikeln gezwungen, insbesondere bei
literaturtheoretischen Begriffen. Trotzdem ist der Versuch, alle
Artikel einem einheitlichen Gliederungsschema zu unterwerfen,
beachtenswert, auch weil es die Verfasser zwingt, ihre Ausführungen
entsprechend logisch zu strukturieren. Daß viele Mitarbeiter das als
Prokrustesbett betrachten und daß das gewählte Verfahren einen hohen
redaktionellen Aufwand zur Folge hat,[5] liegt auf der Hand und mag wohl
mit ein Grund für die schleppende Veröffentlichung der beiden weiteren
Bände sein.
Klaus Schreiber
Zurück an den Bildanfang