Bevor die Belege zu dieser Behauptung im Vergleich ausgebreitet werden, ein paar knappe Hinweise zu Anlage und Konzept der Bibliographie von Kretschmann. Es handelt sich um eine subjektive und objektive Personalbibliographie. Auf der obersten Ordnungsebene wird das Material verteilt auf In vita und Postuma, innerhalb dieser Rubriken werden dann die Titel der Primär- und Sekundärliteratur getrennt nacheinander aufgeführt, und zwar in chronologischer Ordnung. Die Trennung von zu Lebzeiten der Autorin und nach ihrem Tode erschienenen Publikationen widerspricht allen personalbibliographischen Gepflogenheiten, liefert angesichts der chronologischen Ordnung überhaupt keinen Zugewinn an Erkenntnis, erschwert aber die Suche nachhaltig. Die durchgezählten Titelaufnahmen sind sehr ausführlich und korrekt. Zwei Register zu den Werken und Personen erschließen das Material. In den Abschnitten zur Primärliteratur sind Übersetzungen des Werks der Dichterin in andere Sprachen bedauerlicherweise nicht berücksichtigt. Hätte sich doch ein erheblicher Teil des einschlägigen Materials, das für die Wirkungsgeschichte so aufschlußreich ist, ohne unangemessen großen Aufwand ermitteln lassen.
Zum Vergleich mit dem Deutschen Schriftstellerlexikon im einzelnen: In der Rubrik Beiträge und Abdrucke verzeichnet Jacob Nr. 69, 1 aus der Wiener Theaterzeitung, 1857, Nr. 66 den anonym erschienenen Text Medea. An Adelaide Ristori, bei Kretschmann Fehlanzeige. Seine Bibliographie der Quellen beginnt erst 1858 mit dem selbständig erschienenen Werk Aus Franzensbad. Daß Ebner-Eschenbach dieses erste Buch anonym veröffentlicht hat, erfährt man bei Jacob, nicht bei Kretschmann; daß es 1913 in einer neuen Ausgabe mit Verfasserangabe neu herausgekommen ist, teilt nur Jacob mit, wie denn Kretschmann überhaupt nur selten Neuausgaben (deren konsequente Verzeichnung hätte allenfalls noch die Separierung der zu Lebzeiten Ebner-Eschenbachs veröffentlichten Titel mit Blick auf die Dokumentation der von der Autorin selbst gelenkten Rezeption sinnvoll erscheinen lassen) verzeichnet. (Dafür wiederholt er jedoch bei den 1910 in vier absolut seitenidentischen Auflagen erschienenen Genrebildern gleich viermal denselben Text der gleichlautenden vollständigen Inhaltsvermerke (S. 46 - 47, Nr. 248 - 251). Die Erdbeerfrau wird bei Kretschmann zuerst 1900 mit dem Abdruck in der Zeitschrift Kunstwart zitiert (Nr. 139); bei Jacob ist als früheste Veröffentlichung das von Karl Emil Franzos unter dem Titel Deutsches Dichterbuch aus Österreich (Leipzig 1883) herausgegebene Sammelwerk nachgewiesen. Dieser Druck ist allein schon ein besonders wertvolles Zeugnis, weil er zugleich den sicheren Geschmack bezeugt, mit dem Franzos - er hat eben nicht nur das Werk von Georg Büchner wiederentdeckt - in der Literatur das Bedeutende oft früher wahrgenommen hat als andere.
Die Szene in einem Aufzug mit dem Titel Am Ende wird bei Kretschmann in der selbständigen Veröffentlichung von 1897 des Berliner Theaterverlags Eduard Bloch zitiert, bei Jacob findet sich ein früherer Druck in der Zeitschrift Cosmopolis von 1896. Nur ein paar Beispiele für viele Zeugnisse der zeitgenössischen Rezeption, die Jacob nachweist und die bei Kretschmann fehlen: die Besprechung der Dorf- und Schloßgeschichten durch Paul Schlenther in der Deutschen Literatur-Zeitung von 1883; der Zwei Comtessen durch Reinhard Mosen in den Blättern für literarische Unterhaltung (1887) und durch Johannes Emmer (zur Neuauflage) in derselben Zeitschrift 1890: der zwei Bände Das Gemeindekind (1887 u.ö.) durch Otto von Leixner in der Deutschen Romanzeitung (1887/88); zahlreiche anonyme Rezensionen, etwa diejenige zu Am Ende in der Brünner Sonntags-Zeitung. In der Norddeutschen allgemeinen Zeitung findet sich unter dem 29. Dezember 1878 (Nr. 307) die Besprechung eines Bruno Walden zu der in den Wiener Dioskuren (8. 1879) abgedruckten Erzählung Die Freiherren von Gemperlein. Daß es sich bei Bruno Walden um ein Pseudonym für Florentine Galliny handelt, ist Kretschmann entgangen, bei Jacob vermerkt. Man braucht kein Anhänger des literaturwissenschaftlichen Feminismus zu sein, um zu begreifen, daß es für die Rezeption einer Autorin einen Unterschied machen könnte, ob ihre Arbeiten von weiblicher oder männlicher Feder besprochen werden. An allen sechs Stellen, wo bei Kretschmann Bruno Walden vorkommt, ist also ein "d.i. Florentine Galliny" zu ergänzen.
Die hier mitgeteilten Hinweise auf Ergänzungen, die der neue "Goedeke"
sogar zu einer Spezialbibliographie bietet, sind zugleich auch
geeignet, die Äußerungen, mit denen H.-G. Roloff kürzlich in einer von
ihm selbst redigierten Zeitschrift Herbert Jacob als verantwortlichen
Projektbearbeiter und Paul Raabe als langjährigen Projektleiter des
"Goedeke" überschüttet hat, als inkompetent zu desavouieren. Wenn
Roloff von Jacobs "Bibliographen-Hybris" spricht, gar von einem
"Geschmacks-Dilettantismus" redet, "der nicht zu verantworten ist,
zumal dadurch auch Informationsleistungen für neue Fragestellungen
ausgeblendet werden",[2] so läßt das für jeden Kundigen leicht die
invidia collegarum des Großprojektemachers erkennen, der pikanterweise
bald nach der Wiedervereinigung das von Jacob gegen große
wissenschaftspolitische Mißgunst zu DDR-Zeiten vor dem Untergang
bewahrte Material des Goedeke gern an sich gerafft hätte, um es seinem
an konzeptioneller Elephantiasis leidenden Lexikon Die deutsche
Literatur[3] zu inkorporieren. Dieses aber ist bekanntlich noch in
keiner seiner Epochenreihen über den ersten Teil des Buchstabens A
hinausgelangt. Wären Jacobs Unterlagen in Roloffs Hände gelangt, hätte
die Forschung vermutlich bis ins übernächste Jahrhundert auf die
Publikation der ermittelten Bibliographica warten müssen.
Die Bibliographie von Kretschmann ist als Ergänzungsband der von Karl
Konrad Polheim und Norbert Gabriel herausgegebenen Kritischen Texte
und Deutungen von und zu Ebner-Eschenbach (so muß man formulieren,
weil es sich um die problematische Verquickung von Editionen und
Interpretationen handelt) erschienen, unter den denkbar günstigsten
Bedingungen für eine Personalbibliographie also. Man kommt aber schon
ins Grübeln, auch über die Vorarbeiten zu dieser Edition, wenn man an
so vielen Stellen bei Goedeke besser bedient wird. "Ihr wißt, auf
unsern deutschen Bühnen / Probiert ein jeder, was er mag", möchte man
mit Goethes Theaterdirektor kommentieren.
Hans-Albrecht Koch
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