Während die eigentlich künstlerisch-produktive Aufnahme Goethes in Bildender Kunst (etwa am Beispiel von Jospeh Beuys), Musik (bei Anton Weber) und Literatur (bei Arno Schmidt, Dieter Kühn, Gabriele Wohmann und Volker Braun) eher knapp behandelt werden, kommen aus der neueren Goethe-Forschung zwei modische Ausprägungen - eben die durch den Titel angekündigte diskursanalytische bzw. dekonstruktivistische Variante und der "grüne" Goethe als Vorläufer ökologischen Denkens - ausführlich zu Wort, auch in längeren Zitaten.
Darin liegt das Hauptverdienst des kleinen Bandes (nicht etwa in der knappen beigegebenen Auswahlbibliographie), daß er durch die zahlreichen eingestreuten Zitatbelege zeigt, wie dicht beieinander da Weizen und Spreu liegen. Freilich übt der Bearbeiter des Katalogs in seinen Urteilen eine solche "Epoché", daß man nicht sicher sein kann, ob man seinen Text so boshaft lesen darf, wie das hier geschieht.
Da die dekonstruktivistischen Entertainer - in der Absicht, mit der
altväterlichen Unterstellung aufzuräumen, etwas Gesagtes oder
Geschriebenes intendiere einen Sinn, den man durch Interpretation dem
Verständnis erschließen könne - nur noch eine einzige Spielregel
gelten lassen, die da lautet "Jeder darf mitspielen", tun wir's hier
auch und danken Paschek, daß er aus Eva Horns Buch Trauer schreiben,[1]
einer Konstanzer Dissertation, gerade die folgende Stelle zitiert,
nicht ohne zuvor den "semiologisch und psychoanalytisch geschulten
Blick" der Autorin zu rühmen, dem sich Goethes "Konzeption der
Autorschaft" enthülle als "Text-Herrschaft, einer Selbstmächtigkeit
des sprechenden Subjekts, die sich im intertextuellen Kampf mit den
Toten zu bewähren hat. In diesem Kampf restituiert sich eine vom Tod
bedrohte Autorschaft als eigenes Sprechen. [...] Trauer [...] bezieht
sich auf einen verlorenen anderen, um dessen Abwesenheit sie als um
ihr leeres Zentrum kreist. Diese Dezentrierung des Subjekts und seiner
Sprache beim Tod des anderen ist so lokalisierbar als eine Öffnung auf
den anderen hin, genauer gesagt: auf die Leerstelle, die erst sein
Fehlen ins Ich hineinträgt. Figuration, Darstellung, die Substitution
einer 'Sache durch das Zeichen' (Goethe) werden unterm Blick der
Trauer zum Verrat am anderen, in dem Maße, wie sie seine Abwesenheit,
sein Fehlen ausfüllen, Präsenz erzeugen und ihn in dieser ersetzenden
Re-Präsentation 'noch einmal erschlagen' (Freud). Nicht Substitution
durchs Bild, durch die Figur, sondern die Zeichenpraktiken der
Kontiguität und Indexikalität - Spur, Reliquie und Markstein - sind
die Formen einer trauernden Verweisung, der es darum zu tun ist, die
materiale Anwesenheit des anderen, seine irreduzible Singularität wenn
schon nicht zu repräsentieren, so doch in der Insistenz des Verweisens
virulent zu halten."
Man achte einmal nur auf die katachretische Metaphorik der kurzen
zitierten Probe: Die scheinbar "genauer" als Leerstelle präzisierte
Öffnung, die "sein [gemeint vermutlich "des anderen"; grammatisch nur
zu verstehen als "des Subjekts"] Fehlen ins Ich hineinträgt"
- huckepack, im Koffer, in der Plastiktüte oder mit nackten Händen,
wie bloß trägt die leere Öffnung das Fehlen ins Ich hinein. Das ist so
erhellend, wie wenn man ein paar Sprichwörter und Redensarten zu einer
neuen Aussage folgender Art montierte: Die Krone schlägt dem Auge den
Boden aus.
Das Problem kann man auch so fassen: Wieviel von derartigem Zeug muß
man gelesen haben, um als Goethe-Forscher (in wessen Augen?) zu
gelten? Wieviel Zeit darf man dann noch für die Goethe-Lektüre selbst
verwenden? Goethe-Forschung und Goethe-Kennerschaft auf dem Weg zu
kontradiktorischer Opposition, weil sich die Literaturwissenschaft mit
ihrer Wichtigtuerei immer mehr vor die Literatur schiebt?
Ob beabsichtigt oder ungewollt, wie auch immer, hilft Paschek mit
seinem Überblick zu einem Ausschnitt der neueren Goethe-Forschung
gerade deswegen dem Leser, weil er ihn durch die ausführlichen und
"enthüllenden" Textproben von der zeitvergeudenden Lektüre der Bücher
abhält. Daß ein Bibliothekar dies tut, steht in der guten Tradition
aufklärerischer Unternehmungen mit Titeln wie Bemühungen zur
Beförderung der Critik und des guten Geschmacks oder auch Der
Freimütige.
Hans-Albrecht Koch
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