Auf 25 Seiten zeichnen Hermann Böhm und Heinz Lunzer ein an Details reiches Lebensbild des Herausgebers und Hauptautors der Fackel. Darauf folgt ein eigener Abschnitt zur Ikonographie von Kraus aus der Feder von Leo A. Lensing, der auch den persönlichen Kontakten von Kraus zu den wichtigsten Urhebern der photographischen Porträts nachgeht: Franz Pfemfert, Dora Kallmus (die sich den Künstlernamen Madame d'Ora zugelegt hatte), Hermann Schieberth, Trude Fleischmann u.a.
Ich und Judentum ist das Kapitel überschrieben, das die ambivalenten, in ihren antisemitischen Anklängen oft als Manifestation jüdischen Selbsthasses gedeuteten Äußerungen von Kraus zum Judentum analysiert. Typisch für Kraus auch in diesem Bereich der Widerruf eigener Positionen, etwa gegenüber dem lange angefeindeten Theodor Herzl, für dessen Absichten Kraus erst nach dem Tod des Gegners Verständnis entwickelte.
Feindbilder, Bildsatire und Bildmontage sind einige der Leitfragen,
unter denen Die Fackel als "Anti-Medium" dargestellt wird. Der Fackel
im Ersten Weltkrieg widmet Sigurd Paul Scheichl eine Folge brillanter
Analysen, deren eine der Frontberichterstatterin und Kriegshetzerin
Alice Schalek[1] gilt. Doppelt zuwider war sie Kraus - was hatte eine
Frau an der Front zu suchen und was wollte sie im Journalismus? -, und
er überschüttete sie als das Gegenbild seines Ideals der Weiblichkeit
in der Kriegsfackel und in den Letzten Tagen der Menschheit[2] mit
satirischen Kaskaden, "weil sie sich selbst die fragwürdigen
Eigenschaften des Heroischen zuschrieb, weil sie den verächtlichsten
und un-'natürlichsten' männlichen Beruf, den des Journalisten,
ausübte" (S. 120). Noch dazu schrieb sie für die Neue freie Presse,
jenes Organ, in dem sich für Kraus alle Untugenden des publizistischen
Geschäfts bündelten. Als sie ihren Bruder veranlaßte, den verhaßten
Schriftsteller zum Duell zu fordern, reagierte Kraus, indem er dem
Aufdruck seiner Visitenkarte "Karl Kraus Herausgeber der 'Fackel'" mit
der Hand hinzufügte: "empfängt, wie er wiederholt bekannt gegeben hat,
grundsätzlich keine Besuche und ertheilt die von Ew. Wohlgeb.
gewünschte Antwort: dass seine Vertretung die Kanzlei des Hof- und
Gerichtsadvokaten Dr. Viktor Kienböck, I. Plankengasse 7 innehat. 13.
Mai 16." Mit dem Advokaten konnte Norbert Schalek sich schlecht
duellieren.
Das Leitmotiv für seine zahlreichen Äußerungen zum Thema "Sittlichkeit
und Kriminalität" lieferte Kraus mit dem schneidenden Aphorismus: "Der
Skandal beginnt immer erst dann, wenn die Polizei ihm ein Ende macht".
Von den Sittlichkeitsprozessen, die Kraus in der Fackel publizistisch
begleitet hat, dokumentiert Leo A. Lensing drei "Fälle" ausführlicher.
Darunter ist auch die zunächst auf Kinderschändung, dann auf
Päderastie lautende Anklage gegen den Wiener Universitätsprofessor
Theodor Beer, dessen Frau nach dem Urteil und der damit verbundenen
gesellschaftlichen Vernichtung zwar Selbstmord beging - von
"Selbstmord der Themis" schrieb Kraus -, nicht jedoch ohne zuvor den
Denunzianten ihres Mannes auf offener Straße mit der Reitpeitsche
geschlagen zu haben: eine Tat würdig einer Charlotte Corday, mit der
sie in einem parallel in der Wiener allgemeinen Zeitung erschienenen
Artikel schon Peter Altenberg verglichen hatte.
In trefflicher Bildauswahl, sachlicher Information und pointierter
Deutung gleich überzeugend sind die Schilderungen der schwierigen
Beziehungen von Kraus zu zahlreichen Zeitgenossen, etwa zu Oskar
Kokoschka, dessen Genie der Herausgeber der Fackel früh erkannte. Er
ließ sich von diesem Maler zwar porträtieren, weigerte sich aber
später, als das Verhältnis beider Männer von größerer Distanz war, den
erbetenen Beitrag zum Katalog einer Ausstellung des Künstlers zu
schreiben.
Auf höchst einleuchtende Begriffe bringt Victoria Lunzer-Talos das
Besondere der Beziehung zu Sidonie Nádhernì. Während Kraus die Frauen
sonst, ganz im Sinne Otto Weiningers, der ihn tief beeindruckt hatte,
lediglich als austauschbare Gattungswesen wahrnahm, in der
geschlechtlichen Begegnung nur das Mittel zum Zweck männlicher
Inspiration sah, trat dem sich autonom Dünkenden in der reifen und
anspruchsvollen Sidonie Nádhernì zum ersten Mal eine weibliche
Persönlichkeit entgegen, deren überlegene Individualität ihn fixierte.
Als die Stärkere in der Liebesbeziehung versetzte sie "ihn in die
Spannung, in die 'Liebestodesangst', aus der die - oft verzweifelte
- Energie zur Arbeit kam. Sidonies aktiver Beitrag bestand
paradoxerweise im Sich-Entziehen" (S. 175).
Stillschweigend oder explizit korrigieren bzw. präzisieren die Autoren
immer wieder auch Irrtümer, die sich in der Sekundärliteratur finden.
Mit Kraus'scher Süffisanz machen sie auf die eine oder andere
Trouvaille aufmerksam, etwa wenn es um die überall kolportierte
Auffassung geht, Kraus habe zwar die psychoanalytische Bewegung
angegriffen, nicht jedoch ihren Gründer. Dabei "ließ er mehr als
einmal dem wie dafür geschaffenen Namen Freuds ein böses onomastisches
Wortspiel angedeihen. Bösartig ist der 1913 veröffentlichte
Aphorismus, wo ein 'Lehrmeister der Liebe' beschrieben wird, der die
'neue Jugend' dazu verführt, sich sexuell auszuleben, ohne die
entsprechenden Schutzmittel zu benutzen. Das Fazit: 'Es scheint, daß
sie den Sigi Ernst mit dem Sigi Freud überwunden hat'. Diese Koppelung
seines Namens mit dem eines stadtbekannten Herstellers von
'Französischen Gummi-Spezialitäten', dessen Leuchtreklamen in der
Kärntnerstraße prunkten, wird Freud schon als Vergeltung verstanden
haben" (S. 171).
Als verlockende Einladung zu weiterer Forschung beschließt den Band
eine Beschreibung des Kraus-Archivs der Wiener Stadt- und
Landesbibliothek, in der Hermann Böhm auch über die komplizierten Wege
informiert, auf denen verschiedene Teile des Kraus-Nachlasses über die
Ära von nationalsozialistischer Herrschaft und Weltkrieg - vor allem
über die Schweiz und über Schweden - gerettet werden konnten. Verloren
sind dagegen die Nachlaßteile aus dem Arbeitszimmer von Karl Kraus.
Sein Anwalt Otto Samek hatte daraus einen Erinnerungsraum in seinem
Hause eingerichtet, den nach seiner Ausreise in die USA im Oktober
1938 eine SA-Horde verwüstete. Retten konnte er lediglich die -
inzwischen von Böhm selbst mustergültig edierten - Akten der Prozesse,
die er für Kraus geführt hatte, sowie die Korrekturfahnen der
nachgelassenen Dritten Walpurgisnacht.
Indem der Band zur Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite
einlädt, dokumentiert er die Ausstellung weit besser, als dies ein
Katalog mit den ständigen Unterbrechungen durch Exponatbeschreibungen
üblicherweise vermag. Die vielen Abbildungen sind buchgestalterisch so
integriert, daß man sie gleichsam "mitliest" - das etwa hatte Karl
Kraus auch für die Illustrationen der Fackel vorgeschwebt. Bedauerlich
nur, daß der reiche Schatz an Namen nicht durch ein Register
erschlossen ist, was den Nutzen dieses Ausstellungskatalogs als
Informationsmittel mindert.
Gabriella Rovagnati
Zurück an den Bildanfang