Die Auswahl der interpretierten Texte, für die kein Herausgeber, sondern der Verlag verantwortlich zeichnet, wird zwar nicht begründet, dürfte aber nicht zuletzt von dem pragmatischen Kriterium der leichten Verfügbarkeit wohlfeiler Ausgaben bestimmt gewesen sein. Abgesehen von Wezels Belphegor und Wielands Aristipp sind alle Texte in Reclams Universal-Bibliothek greifbar, deren kommentierte Editionen bekanntlich längst zu den wichtigsten Stützen des akademischen Unterrichts in den literaturwissenschaftlichen Disziplinen gehören. Da die Barockliteratur lediglich mit zwei Werken vertreten ist, die zudem noch beide dem Genre des Picaro-Romans angehören, während der höfisch-historische Roman unberücksichtigt bleibt - nicht einmal die Römische Octavia des Herzogs Anton Ulrich hat man der Aufnahme wert befunden -, wäre es entschieden einleuchtender gewesen, den Band ausschließlich den Romanen des 18. Jahrhunderts zu widmen und die Reihe der Interpretationen wenigstens noch um eine solche zu Goethes Werther zu vermehren. Daß ausgerechnet der historisch einflußreichste Roman fehlt, befremdet um so mehr, als alle anderen ausgewählten Texte durchaus als besonders markante Beispiele der Entwicklung der Gattung gelten können, sei es in formaler oder thematischer Hinsicht. Dieses Kriterium erfüllen auch die heute weniger bekannten Werke wie Wezels Belphegor oder Wielands Aristipp.
Mit dem Fehlen des Werther söhnt die Tatsache ein wenig aus, daß der - gerade von der zünftigen Germanistik - so lange unterschätzte Wieland gleich mit zwei Texten vorkommt, der bekannteren Geschichte des Agathon und dem Aristipp, den Jan Philipp Reemtsma vom Vorwurf der Oberflächlichkeit befreit und im Kontext des zeitgenössischen Geisteslebens vorstellt als "Roman über die historischen und psychischen Entstehungsbedingungen von Philosophie". Sah doch Wieland, der einstige Erfurter Professor der Philosophie, der mit seiner überaus positiven Reaktion auf die Herdersche Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft im Teutschen Merkur gegen Kants Lehre zu polemisieren begonnen hatte, mit der neuen Akademisierung der Philosophie durch Kant und mehr noch durch Fichte die Gefahr heraufziehen, daß sich die Philosophie vom geselligen Dialog des Projekts der Aufklärung in hermetischer Terminologie abschließen würde. Dagegen richtete sich die offene Form des Philosophenromans.
Jeder Beitrag enthält in einem separaten Anhang bibliographische Hinweise auf die wichtigsten Fundstellen der Romane: in jedem Fall auf Abdrucke in älteren und modernen Gesamtausgaben und auf kommmentierte Einzelausgaben; Erstausgaben werden unverständlicherweise bald angeführt (z.B. bei Heinses Ardinghello), bald weggelassen (so etwa bei Grimmelshausens Simplicissimus) und eine alphabetisch geordnete Liste der Forschungsliteratur, in die auch wichtige ältere Titel aufgenommen sind. Für die einläßlichere Beschäftigung mit den genannten Romanen, vor allem im Seminar, bietet die Sammlung ausgezeichnete Hilfen.
Hans-Albrecht Koch