Zu diesem Zweck verzichtet sie ebenso auf "Spezialistenjargon" wie auf
"gelehrte Vollständigkeit" und will nur "das Wichtigste in Kürze" (S.
8) bieten,[3] wobei die gesamte frankophone Literatur, die außerhalb der
Grenzen Frankreichs entstand, nicht zu diesem Wichtigsten zählt.
Begründet wird dies wiederum mit der "europäischen Zielsetzung" des
Buches, doch läßt sich mit ihr auf der einen Seite der Ausschluß etwa
der belgischen und schweizerischen Literatur französischer Sprache
schwerlich rechtfertigen, auf der anderen Seite wird die intendierte
Abschaffung der (Verständigungs-) Grenzen zwischen Deutschland und
Frankreich erkauft mit der Errichtung höherer Grenzen in andere
Richtungen. Denn für Frankreich, wo, um nur ein Beispiel zu nennen,
verglichen mit Deutschland viele Einwanderer aus Marokko, Tunesien und
Algerien leben, ist etwa die maghrebinische Literatur zu großer
Bedeutung gelangt, so daß auch ihre Kenntnis für die Verständigung mit
Frankreich von Belang sein dürfte. Allerdings muß zur Relativierung
dieses Mankos natürlich gleich hinzugefügt werden, daß von
Stackelbergs Literaturgeschichte ungefähr in der Mitte dieses
Jahrhunderts endet und damit ein Großteil zumindest der
außereuropäischen frankophonen Literatur ohnehin nicht in ihrem
Blickfeld liegt.
Davon abgesehen jedoch erweist sich die gewählte Methode, in
Anbetracht des knappen Raumes und zugunsten der Lesbarkeit der
Darstellung "eine gewisse Kenntnis der historischen Fakten"
vorauszusetzen und daher auf die sogenannte "Realhistorie" (S. 10)
außer in kurzen Andeutungen weitgehend zu verzichten, als
ausgesprochen positiv für die Kleine Literaturgeschichte: Zum einen
sorgt dieser Verzicht für die große Kohärenz des anregenden Buches und
entspricht voll und ganz dessen erzählerischem Duktus,[4] zum anderen
erlaubt die gewählte Vorgehensweise eher als eine allzu starre
Anbindung an die "Realhistorie", gewissermaßen innerliterarische
Verwandtschaften aufzuzeigen, die sonst oft verlorengehen, etwa wenn
bereits bei den mittelalterlichen Romanen (S. 20) und bei der Farce
vom Meister Pathelin (S. 24) auf Rabelais vorausgedeutet wird und die
entsprechenden Seiten über Rabelais dann diese Anspielungen auflösen
und so die Zusammenhänge verstehbar werden lassen.
Mag die Kleine Geschichte stellenweise auch allzu vereinfachend und
geradezu gleichmachend anmuten[5] - in einem solchen Fall wirkt der
selbstironische Kommentar "(wenn man will)" ausgesprochen wohltuend -,
so verblüfft doch in Anbetracht der zwangsläufigen Knappheit der
Ausführungen an vielen anderen Stellen die detaillierte und in den
wenigen Worten sehr treffende Analyse: etwa wenn die zentrale Funktion
der Sprache in Racines Theaterstücken beschrieben wird, statt sich auf
bloße Nacherzählung des plot zu beschränken (S. 70 - 71), oder wenn
gezeigt wird, daß La Fontaines Fabeln über ihren aktuellen Anlaß und
damit zugleich über ihre politische Deutung weit hinauswachsen und sie
der Moralistik näher stehen als einer bestimmten Moral.
Über die in jeder Literaturgeschichte und erst recht natürlich in
einer Kleinen Geschichte vorhandenen Lücken oder Inkonsequenzen läßt
sich immer streiten, z.B.: Kann "auf die Behandlung des Marquis de
Sade" tatsächlich ganz einfach "hier verzichtet werden" (S. 157),
ungeachtet seiner breiten Rezeption im 20. Jahrhundert (und seiner
Aufnahme in die Bibliothèque de la Pléiade seit 1990)? Darf der Coup
de dés von Mallarmé fehlen? Oder: Warum etwa werden zwar Saint-John
Perse aus Guadeloupe oder Henri Michaux aus Belgien immerhin erwähnt,
nicht jedoch beispielsweise ein Belgier wie Maurice Maeterlinck,
dessen Werk für das "allgemein gebildete, europäisch orientierte
Publikum" doch gewiß auch zum "Pensum" gehörte? Man könnte ferner
darüber streiten, ob eine 1999 erscheinende Literaturgeschichte
tatsächlich kaum weiter als bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts
reichen darf und folglich mit dem sogenannten Theater des Absurden und
dem Nouveau roman,[6] mit dem "ganz große[n] Wurf" La modification
(1957) von Michel Butor als letztem besprochenem Text, enden muß, weil
es für "eine angemessene historische Wertung ... eines gewissen
Abstandes" bedarf (S. 9), oder ob sich nicht gerade hier der Mut zu
Irrtum und Lücke kundtun sollte. Unabhängig jedoch von diesen
Entscheidungen ist die Kleine Geschichte der französischen Literatur
eine gut lesbare, informative Einführung in die französische Literatur
und als solche durchaus - eher Privatleuten als größeren Bibliotheken
- zur Anschaffung zu empfehlen.
Etwas enttäuschend allerdings, weil spärlich und wenig aktuell sind
die Literaturhinweise am Ende: Offensichtlich wurden sie in der
"durchgesehenen" zweiten Auflage nicht durchgesehen, denn hier heißt
es beispielsweise, die von Jürgen Grimm 1989 herausgegebene
Französische Literaturgeschichte "lag bei Abschluß des Manuskripts ...
noch nicht vor" (S. 251). Mittlerweile ist aber bereits 1994 deren
dritte Auflage erschienen, die demnach sehr wohl hätte berücksichtigt
werden können. Ebenso müßten im Text selbst Angaben wie "nun (1989) im
Erscheinen begriffen" (S. 228) auf den heutigen Stand gebracht werden
und - das betrifft nicht die Bibliographie, sondern die Biographie[7]
- dürfte 1999 ein Satz wie "Wir sprechen von Eugène Ionesco (geboren
1912), von Samuel Beckett (geboren 1906) und Autoren wie Arthur Adamov
(geboren 1908) oder Jean Tardieu (geboren 1903)" (S. 244) nicht
unverändert abgedruckt werden, wenn bei allen anderen Autoren das
Todesdatum genannt wird. Am unverständlichsten ist die Lücke beim 1970
verstorbenen Adamov (wo doch Sartres Leben mit der Angabe "1905 -
1980" bereits seinen Rahmen hat), aber auch Beckett, Ionesco und
Tardieu sind 1989, 1994 und 1995 gestorben und verdienten diese kleine
Erweiterung der Kleinen Geschichte der französischen Literatur im Jahr
1999.
Barbara Kuhn
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