Da keine erste Version existiert, stellt sich für die Herausgeber hier
nicht wie für diejenigen der übrigen Bände das heikle Problem, einen
Weg zwischen völliger Neubearbeitung und größtmöglicher Treue zum
Vorgänger zu finden, sondern nur die - bei der heutigen
Publikationsflut allerdings ebenfalls nicht zu unterschätzende
- Schwierigkeit, sich von anderen vergleichbaren Nachschlagewerken[2]
abzusetzen. Ohne diese zu erwähnen, versucht das Vorwort dennoch, die
Besonderheiten des vorliegenden Bandes herauszustreichen, die zum
einen in der Berücksichtigung nicht nur französischsprachiger Autoren
aus Frankreich, sondern allgemein frankophoner Schriftsteller liegt,
auch wenn diese nur einen Teil ihres Werkes in französischer Sprache
verfaßten und nicht in Frankreich lebten oder leben. Dazu ist freilich
anzumerken, daß für die Mehrzahl der in den vergangenen Jahren
erschienenen Literaturgeschichten und -lexika dieselbe Entscheidung
getroffen bzw. bei einer Neuauflage die Frankophonie hinzugenommen
wurde, so daß dieses Charakteristikum schon fast eine Art
Minimalforderung an ein aktuelles Nachschlagewerk darstellt, zumindest
aber keinesfalls eine Besonderheit, die das Opus vor ähnlichen Werken
auszeichnete.
Das andere hier hervorgehobene Merkmal hingegen, der große Raum, der
Literaturzeitschriften und Verlagshäusern eingeräumt wurde, scheint in
der Tat ein Spezifikum zu sein, das den Band auf diesem Gebiet zu
einer wichtigen Adresse für grundlegende erste Informationen macht,
zumal die Regie für diese Artikel dem 1988 gegründeten Institut
Mémories de l'Édition Contemporaine (Imec) anvertraut wurde, das über
zahlreiche Archivbestände von Schriftstellern, Intellektuellen,
Verlagen, Zeitschriften etc. verfügt.
Was die Autoreneinträge anbelangt, wurde erstens ein relativ enger, an
der traditionellen Gattungstrias der sogenannten Belletristik
orientierter Literaturbegriff zugrundegelegt, so daß Autoren
bedeutender Werke aus Geschichte und Philosophie,
Literaturwissenschaft und sciences humaines allgemein nur in
Ausnahmefällen anzutreffen sind. Zweitens liegt der Akzent in der
Regel auf dem Werk, nicht auf der Biographie eines Autors, auch wenn
die Artikel im wesentlichen chronologisch aufgebaut sind. Je nach
Verfasser eines Beitrags variieren aber gerade in dieser Hinsicht die
einzelnen Darstellungen sehr stark, so daß etwa der Artikel über
Apollinaire mehr Informationen zur Biographie als zum Werk enthält,
während jener über Sarraute sogar auf einzelne Texte verhältnismäßig
detailliert eingeht. Neben den längst als bedeutend anerkannten und
kanonisierten Autoren, denen jeweils ein langer, von einem
Spezialisten verfaßter und mit einer ausführlichen Bibliographie der
Primär- wie Sekundärliteratur versehener Eintrag gewidmet wurde, nimmt
der Dictionnaire auch unbekannt gebliebene und noch unbekannte
Autoren[3] auf, wobei in den kürzeren Artikeln ebenfalls die Werktitel
mit Erscheinungsjahr, z.T. zusätzlich mit dem Verlagsnamen,
figurieren.
Neben den Personenartikeln und den bereits genannten Artikeln zu
Zeitschriften und Verlagshäusern enthält das Lexikon unter den über
1800 Einträgen sehr unterschiedlicher Länge, die alle namentlich
gezeichnet sind, Artikel zu weiteren Institutionen wie der Académie
Française,[4] zu den in Frankreich ja eine große Rolle spielenden
Literaturpreisen,[5] zu literarischen Strömungen wie dem théâtre de
l'absurde, zu im 20. Jahrhundert geprägten oder umgeprägten Gattungen
wie bande dessinée oder roman historique[6] sowie verschiedene, in der
Regel sehr informative Überblicksartikel zu Themen wie littératures du
Maghreb, théâtre contemporain oder, auffallend ausführlich,
traduction, da die Übersetzungstätigkeit bzw. "ce qui est lu" neben
dem, "ce qui est créé" (S. 1098 - 1099), als für das Verständnis auch
der im Original französisch geschriebenen Literatur essentiell
erachtet wird. Daher geht der über 16 Spalten lange Artikel auf den
Unterschied zwischen der Übersetzungspraxis der Antike und der der
Moderne ein, auf die einzelnen Sprachgebiete, aus denen heute
vorrangig übersetzt wird, auf die theoretische Debatte um die
Übersetzung sowie auf einzelne gelungene "oeuvres-de-traduction" (S.
1105) und auf den Einfluß von Übersetzungen auf die
Literaturproduktion.
Zeitlich grenzt sich der Dictionnaire weniger scharf vom 19.
Jahrhundert ab als beispielsweise das von Mitterand herausgegebene
Werklexikon, das als Stichtag den 1. Januar 1901 setzt und keinem vor
diesem Datum erschienenen Werk einen Eintrag zugesteht. Da hier jedoch
die einzelnen Texte im Rahmen von Autorenartikeln besprochen werden
und für die einzelnen Autoren jeweils das gesamte Werk berücksichtigt
wurde, geht etwa bei Maeterlinck oder Proust auch das vorige
Jahrhundert noch in die Darstellung mit ein und rundet sie ab.
Zusammenfassend läßt sich dieses weitere Lexikon zur
französischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts demnach durchaus
sowohl für Bibliotheken als auch für alle an der Gegenwartsliteratur
Interessierten empfehlen und den bisherigen Nachschlagewerken an die
Seite stellen, zumal es in vielen Einträgen ausgesprochen präzise und
detaillierte Informationen enthält und sich zudem durch seine
Aktualität auszeichnet, da sowohl im Bereich der Primär- als auch in
dem der Sekundärliteratur zahlreiche Publikationen aus den neunziger
Jahren, stellenweise sogar noch von 1998, dem Erscheinungsjahr des
Dictionnaire, aufgenommen wurden.
Barbara Kuhn
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