Die auf Perioden orientierte Anlage bringt es meist mit sich, daß die sechzig ausgewählten Schriftsteller nicht nur in ihrem Unterkapitel über eine wichtige Phase ihres Schaffens behandelt werden. Leider lassen die Kapitelüberschriften oft nicht vermuten, von welchen Autoren die Rede sein wird. Bei Überschriften wie Der historische Roman, Einzelgänger und Klassiker des sozialistischen Realismus, Poesie nach 1917 sind die Zuordnungen ziemlich offen. Andrej Platonov, der dem Range nach ein Einzelkapitel verdient hätte, ist den Einzelgängern, zugeordnet. Die Darlegung über ihn aber - und das ist am wichtigsten - ist ausgewogen, aktuell und informativ.
Es widerspricht dem historischen Aufbau, daß es ein Kapitel über die fünf russischen Nobelpreisträger gibt. So ist Bunin nun nicht bei den Realisten der Jahrhundertwende eingeordnet, auch nicht in den Zeitraum der Preisverleihung (1933), sondern in die Periode 1953 - 1985. Derartige sonst unvermeidliche Kompromisse zwischen inhaltlicher und zeitlicher Zuordnung gleichen zeitgeschichtliche Überblickskapitel Hintergrund aus, mit denen Waegemans jedes Periodenkapitel beginnt. Das Kapitel über die Phase ab Stalins Tod (1953) reicht über die mögliche Zäsur durch Chruscevs Absetzung (1964) hinweg bis zur Perestroika (1985). Dieser Periodisierung ist zuzustimmen, nicht der von manchen anderen Literaturhistorikern gewählten, die den Einschnitt auf 1991, den Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion, legen, denn der entscheidende Wandel der russischen Literatur zur Freiheit setzt 1985 an, so wie der entsprechende Wandel zur politischen Unterdrückung 1917.
Waegemans Literaturgeschichte hat den Vor- und den Nachteil einer von
einem Wissenschaftler allein geschriebenen Darstellung. Eine so
ausgewogene Zuteilung des jeweiligen Umfangs (Puskin zehn Seiten,
Lermontov, Turgenev und Cechov sechs, Tolstoj 18, Babel' und Zoscenko
knapp zwei) läßt sich sonst nicht erreichen. Andererseits kann ein
einzelner Verfasser nicht mit dem Werk aller Autoren gleich gut
vertraut, ihm auch nicht jeder Schriftsteller gleich nahe sein. Ein
anderer hätte Auswahl und Umfang etwas anders festgelegt und hätte bei
der Darstellung andere Akzente gesetzt. Mit manchen
Literaturhistorikern hätte ich z.B. bei Turgenev unbedingt die späten
Novellen einbezogen, in denen existentielle und transzendente Motive
eine wesentliche Rolle spielen. Johannes von Guenther schreibt in
seinem Buch Die Literatur Rußlands,[2] die Novellen "werden seine Romane
überleben". Überhaupt ergänzen andere Literaturgeschichten wie auch
die von Wilhelm Lettenbauer und Arthur Luther die neue recht gut.
Jeder dieser Autoren hat - wie nun Waegemans - einen eigenen Blick. J.
von Guenther betonte in der seinen 1964 als erster die große Bedeutung
von Dmitrij Klenovskij, Waegemans läßt ihn ganz fort, Lettenbauer
stellte 1956 bei Gogol's "Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel"
als einem "namhaften literarischen Werk" das christliche Anliegen
heraus, den Ernst von Gogol's Anschauungen und den Zusammenhang mit
seinen "geistigen Grundsätzen", während Waegemans nur aus Belinskijs
bösem Verriß ("Apostel der Unwissenheit, Verfechter des
Obskurantismus") zitiert und eher mit d. Mirskij übereinstimmt
("peinliche und beinahe demütigende Lektüre"), den er als einzigen
dieser Vorgänger mehrfach zitiert. Waegemans dem Religiösen
fernstehende Sicht zeigt sich auch im Kapitel über Dostojevskij,
schwächt die geistige Aussage dieser Literaturgeschichte insgesamt.
Bei Bunins Anklage gegen das Verdrängen des Todes in Der Herr aus San
Francisco referiert Waegemans den Inhalt - ähnlich wie Arthur Luther
1924 in seiner Literaturgeschichte -, doch Luther ergänzte dann mit
einem Hinweis auf das "erschütternde Bild" der "Seelenlosigkeit
unserer sogenannten 'Kultur'", das Bunin vermittelt, während Waegemans
keine Aussage über das Anliegen Bunins macht.
Außer weiteren Literaturgeschichten sollten für die grundsätzlichen
Informationen, die derartige Nachschlagewerke vermitteln, auch
Kindlers Hauptwerke der russischen Literatur[3] und die Supplementbände
zu Kindlers neuem Literaturlexikon[4] herangezogen werden, nicht nur
wegen der dort üblichen ausführlicheren Darstellung im Einzelfalle,
sondern auch wegen einzelner von Waegemans nicht aufgenommener neuerer
Autoren (z.B. Petr Aleskovskij, Veniamin Blazennyj, Boris Chazanov,
Boris Cicibabin, Igor' Cinnov, Regina Derieva, Sergej Dovlatov, Ion
Druce, Nikolaj Morsen). Waegemans Bemühen, seine Darstellung bis in
die Gegenwart zu führen, zeigt sich im Widerspruch des Titel des
Epilogs: Im Inhaltsverzeichnis heißt es 1991 - 1995, als
Kapitelüberschrift aber 1991 - 1997. Er nennt dort aktuelle Namen wie
Ljudmila Ulickaja, Viktor Pelevin und Marina Palej, beschreibt aber
keines ihrer Werke. Der herausgestellte Evtusenko ist kein
Repräsentant der neuen Autoren.
Die Namen allein sagen nichts, auch könnte jeder Fachmann weitere
ergänzen.
Die neue Literaturgeschichte stellt die russische Literatur in einem
Zeitraum vor, wie er weder in russischer, noch englischer, noch
französischer Sprache vergleichbar erarbeitet worden ist. Der weniger
philosophische und geistesgeschichtliche, statt dessen mehr
historische, deskriptive und gelegentlich formbewußte Ansatz
entspricht einem breiten Benutzerkreis.
Wolfgang Kasack
Zurück an den Bildanfang