1978 bis 1988 interviewte Glad 26 russische Schriftsteller der ersten
bis dritten Emigrationswelle und veröffentlichte seine Gespräche in
Rußland.[2] Sie sind recht aufschlußreich und durch das neue Buch nicht
überholt. Fast auf jeder Seite finden sich Sätze, welche die Kenntnis
über das Leben in Rußland, über die Literatur, insbesondere ihr
"Funktionieren" in der Sowjetunion und in der Emigration, und
natürlich über die einzelnen Schriftsteller bereichern. Russia abroad
behandelt die Zeit von 906 bis 1991 und ist zunächst in die Pre-Soviet
period und Soviet period geteilt. Die an Emigrationen so reiche
Sowjetzeit ist nach den bekannten drei "Wellen" untergliedert. Bei der
Ersten Emigrationswelle (1917 - 1922) bietet Glad bereits dadurch
Neues, daß er mehr Zentren für sich betrachtet als jeder Forscher
bisher. Er beschreibt nicht nur die Besonderheiten von Berlin, Paris
und Prag, sondern z.B. auch von Athen, Tallin, Buenos Aires, Tokyo und
San Francisco. Bei den im Zweiten Weltkrieg Geflohenen verdeutlicht er
eine wichtige Besonderheit durch einen Schnitt zwischen The early
postwar period mit Deutschland als wichtiger Fluchtstätte und Further
dispersion - insbesondere in die USA. Bei der Breshnew-Welle
betrachtet er unter anderem die unterschiedliche Emigrationspolitik
gegenüber Amerika, Israel und Deutschland. In einem Schlußteil geht er
auch auf die mit dem 1.1.1992 eingetretene Situation ein, daß zwar
formal die Emigration beendet, die russische Literatur vereint ist,
nun aber durch die neuen Grenzen 36 Millionen Menschen mit russischer
Muttersprache eine neues "Russia abroad" bilden.
Ein Vorzug des Buches liegt in der Vielzahl oft neu gestellter,
übergreifender Fragen, die Glad unabhängig von Abschnitten über
Autoren behandelt. Bei der Ersten Welle ist das Verhältnis der
Grundsatzfragen zu Schriftstellern 3:1, bei der Dritten 2:1. Bei der
Analyse der zehn Jahrhunderte vor der Sowjetzeit liegt der Schwerpunkt
auf Personen. Insgesamt hat Glad für die ein bis drei Seiten
umfassenden Vorstellungen von Autoren, meist einzelner Werke, 172
Persönlichkeiten ausgewählt, auch Lenin und einige Philosophen. Unter
den Abschnitten zur Ersten Welle sind solche über die politischen
Parteien, die "Kirche", "Freimaurer", "Repatriierung",
Selbsteinschätzung - Exil oder "Mission" - und den "Nansen-Paß" für
die Expatriierten, unter denen zur Zweiten über "Beziehungen zwischen
'Erster' und 'Zweiter' Welle", "Politische Gruppierungen", "Periodica
und Radio", unter denen zur Dritten über "Russische Juden oder
jüdische Russen", "Die sowjetische Haltung zur Emigration", über
Assimilierung oder Isolierung oder über "The War of Words:
Publications". Es ist kaum möglich, wichtige Fragen zu finden, denen
Glad nicht nachgeht. Viele hatte er auch unmittelbar in seinen
Interviews gestellt. Unter den Schriftstellern, denen Glad gesonderte
Aufmerksamkeit widmet, sind in der Vorsowjetzeit berühmte Reisende wie
N. Karamzin, Diplomaten wie F. Tjutcev, K. Leont'ev, längere Zeit im
Ausland Lebende wie N. Gogol', E. Blavatskaja, M. Volosin, im Inland
Verbannte, wie Avvakum (Sibirien) oder Ju. Lermontov (Kaukasus), ins
Ausland Geflohene wie A. Herzen oder M. Bakunin. Ebenso hat Glad in
der Sowjetzeit wichtige emigrierte Schriftsteller verschiedener
literarischer und politischer Richtungen gewählt (darunter zehn, die
mein Lexikon ergänzen).
Text und Anmerkungen sind reich an Informationsmaterial. Die höchste
Konzentration erreicht es in der Chronology (125 S.). Unter 1080 nennt
sie die Gründung des Klosters auf dem Athos, für 1906 z.B. die Zahl
der russischen Studenten in Berlin (450), für Dezember 1917 die der
russischen Kriegsgefangenen in Deutschland in der Landwirtschaft
(230.000) und in der Industrie (650.000), für 1920 die Schaffung der
Russischen Bibliothek in Belgrad, für den 17.02.1947 den Beginn der
Sendungen der Voice of America, für 1979 die widersprüchlichen
Schätzungen der Zahl russischer Emigranten in Paris - 20.000
insgesamt, 5000 aus der Dritten Welle - im Kontrast zu den 1969
geschätzten 50.000, für den 8. Mai 1988 die Jurij Ljubimov erteilte
Genehmigung, im Taganka-Theater Boris Godunov zu inszenieren. Zu
solchen Einzelfakten tritt regelmäßig eine große Auswahl der im
jeweiligen Jahr Emigrierten, später auch der Verstorbenen, eine kluge
Auswahl neugeschaffener Emigrantenzeitschriften und einiger
Buchveröffentlichungen. Die insgesamt etwa 4000 Informationen geben
eine weltumspannende lebendige Vorstellung von "Russia Abroad".
Nützlich ist natürlich auch die Bibliographie. Hier zeigt sich, daß
Glad Deutsch beherrscht, neben den russischen sind auch deutsche
Monographien, Aufsätze und Zeitungsartikel einbezogen. Natürlich fehlt
Wichtiges: So wie mir sein Buch von 1991 entgangen war, so ihm z.B.
die Monographien von Oleg Michajlov (Literatura russkogo zarubez'ja,
Moskau, 1995) und Boris Lanin (Proza russkoj emigracii, Moskau, 1997).
Von den russischen Werken, die ich in IFB besprochen habe, sind nur
die 1998 und 1999 erschienenen noch nicht berücksichtigt.[3]
Zu kritisieren sind das Fehlen eines Sachregisters (neben dem guten,
da die Personen kurz kommentierenden Namenregister, in dem allerdings
Autoren mit gängigen Pseudonymen unter dem ursprünglichen Namen
eingeordnet sind, Stalin unter Dzugasvili), die fehlende
Differenzierung der Kolumnentitel, das häufige Fehlen von
Zitatnachweisen (die das Buch erheblich erweitert hätten) und
russischen Originaltiteln, evtl. noch die zu geringe Einbeziehung von
emigrierten Slawisten (z.B. V. Setschkareff, N. von Bubnoff, D.
Tschizewsky). Glads Interviews von 1991 sind eine einmalige
Dokumentation, eine gute Erweiterung von Literaturgeschichten und
Monographien. Sein Russia abroad von 1999 bietet den bisher besten
internationalen Überblick über die russische Emigration. Die
vorliegenden Bücher über Russen in Deutschland und anderen Länder
ergänzen nicht nur das seine, sondern werden auch durch dieses
bereichert. Der Begriff des Standardwerks trifft zu.
Wolfgang Kasack
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