Als Gorgias aus Leontinoi im 5. Jahrhundert v. Chr. seinen Schülern versprach, ihnen gegen gutes Geld die Kunst sprachlicher Psychagogik zu vermitteln, mit der sie "das schwächere Argument zum stärkeren machen" ("ton hettona logon kreitto poiein") könnten, formulierte er das Ziel praktischer Rhetorik für alle Zukunft: die technische Überlegenheit des Redners gegenüber den Zuhörern ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt. Was das im politischen und juridischen Raum bedeutete, hatten die Zeitgenossen der ausgehenden Blütezeit der athenischen Polis tagtäglich vor Augen. (Auch wir können den Erfolg solcher Technik ständig beobachten, wenn rednerisch "überlegene" Formulierungskünstler ein unkundiges Publikum allein mit einer Wortschöpfung wie der "kooperativen Zusammenarbeit" zu verblüffen - besser: zu verbluffen - vermögen, bloß weil diese simple rhetorische Figur eines Hendiadyoin für alle, die es nicht merken, nach so ungeheuer viel mehr klingt als nach Zusammenarbeit oder Kooperation. Daß die Sprache der Werbung nichts als angewandte Rhetorik ist, bedarf kaum der Erwähnung; auch die Erfinder des "weißesten Weiß" der Waschmittel haben bei Gorgias gelernt.)
Freilich hatten die Alten auch für die Ambivalenz der Redekunst ein ausgeprägtes Gespür: Philosophen wie Platon, Aristoteles oder Cicero kontrastierten in ihren Äußerungen zur Rhetorik die rein technische Kompetenz des Redners mit seiner moralischen, fragten, wie ein Redner es mit der Wahrheit bzw. der Sachkunde halten solle.
Die große Aufmerksamkeit und Wirkung, welche die antike Redekunst bei den Zeitgenossen gefunden hat, rührt nicht zuletzt aus dem Umstand, daß sie avant la lettre von den Dichtern seit Homer bereits längst praktiziert worden war, deren Werke zum kanonischen Inhalt schon des Schulunterrichts gehörten: Da es ohne rhetorische Technik nicht möglich ist, schön und treffend zu reden, wurde sie zur Schwesterkunst aller Poetik, und als Paar bestimmten Poetik und Rhetorik bis weit in die Neuzeit alle literarische Praxis, von der Predigt bis zum Sonett, vom Brief bis zum Versepos usw.
Das alles hat die literaturwissenschaftliche Forschung längst wieder sichtbar gemacht - der Aufschwung von Barockforschung oder Emblematik ist wesentlich der Rückbesinnung auf die zugrundeliegende ars rhetorica zu verdanken -, hat aber angesichts der problematischen Voraussetzungen (etwa aufgrund fehlender Lateinkenntnisse) ihre Ergebnisse bislang kaum im akademischen Unterricht vermitteln können. Da ist ein Werk wie das hier anzuzeigende eine willkommene Hilfe, auch wenn es eher auf den Betrieb an anglo-amerikanischen Universitäten hin konzipiert ist.
Der kleine Führer zur antiken Rhetorik setzt sich zum Ziel, "to provide comprehensive information about ancient rhetorical theory in the form of highly detailed, descriptive summaries of all the important authorities and works from Greek and Latin antiquity" (S. VI). Den formulierten Anspruch erfüllen die Artikel vollauf. Sie richten sich nach ihrem ganzen Zuschnitt nicht an Forscher, sondern an Studenten und dürften für Anfänger im Fach Klassische Philologie so hilfreich sein wie für Fortgeschrittene in den Neueren Philologien. Die Zusammenfassungen wollen dem Leser keine Kommentare, geschweige denn Analysen, bieten, sondern vor allem Paraphrasen und Beschreibungen.
Den rund 60 - nach dem Alphabet der Autoren bzw. der Sachtitel
anonymer Werke geordneten - Artikeln sind kurze bibliographische
Angaben hinzugefügt, die auf Texteditionen und (englische)
Übersetzungen verweisen. Eine knappe Auswahlbibliographie allgemeiner
Titel zur antiken Rhetorik am Schluß des Bandes berücksichtigt
ausschließlich Veröffentlichungen der englischsprachigen
Altphilologie, mit der einen Ausnahme des grundlegenden Werks von
Heinrich Lausberg, das natürlich nicht in der Originalausgabe,[1]
sondern in der englischen Übersetzung[2] angeführt ist.
Hans-Albrecht Koch
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