Es liegt auf der Hand, daß das Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler
sich nicht an der Exhaustivität der Denkmalerfassung eines
Großinventars messen kann, dies auch gar nicht seiner Zielsetzung
entspricht.[3] Der alte Grundgedanke des Dehio, kunsthistorischer Führer
gerade auch auf dem konkreten Besichtigungsrundgang zu sein, ist auch
für die aktuellen Ausgaben keineswegs aufgegeben, eine Zielrichtung
somit, die den Großinventaren allein schon aufgrund ihres Umfangs
selbstverständlich abgehen muß. Der Funktion des Dehio als Handbuch
"vor Ort" kommt eine Anordnung der Denkmalbeschreibungen nach
Stadtvierteln, Straßen und Ortsteilen, wie sie die neueren Dehios
insbesondere für größere Orte als Untergliederung anbieten, entgegen.
Damit konkurrieren aber zugleich zwei Strukturierungsmuster in der
Gesamtkonzeption, nämlich eine primär bautypologische (Sakralbauten,
Profanbauten und ihre Subtypen usw.) Ordnung der Einzelbeschreibungen
mit eben dieser lokalisierenden-"touristischen" (Stadtviertel,
Straßenzüge usw.), die meist sekundär eingesetzt wird. Diese
"Konkurrenz" unterschiedlicher Gliederungsprinzipien ist zwar keine
Besonderheit der Dehio-Bände, sondern findet sich u.a. auch im
Großinventar wieder. Aber sie ist aufgrund der differierenden
Zielsetzungen beider Publikationstypen doch von unterschiedlicher
Konsequenz. Für Großinventare, die den Anspruch, zugleich als
Besichtigungsführer zu dienen, sowieso nicht stellen, müssen
Lokalisierungsabfolgen als primäres Ordnungsschemata für die einzelnen
Denkmälerbeschreibungen nicht von vorrangigem Interesse sein. Wo sie
dennoch als - meist sekundäres - Ordnungsschema auftreten, bieten
moderne Großinventare Orientierung, Zuordnung und Zusammenführung der
Denkmäler und ihrer Beschreibungen durch umfangreiches Kartenmaterial
und detaillierte Register. Der Nutzen eines Großinventars und seine
Praktikabilität in der Informationsauffindung ist so in jedem Fall
jenseits einer konkreten "Ortserfahrung" zu sehen und auch
gewährleistet. Publikationen dagegen, die, wie der Dehio, nicht nur
als Nachschlagewerke, sondern zugleich als praktische
Besichtigungsführer dienen wollen, müssen dem Rundgang-Prinzip
deutlicher genügen. Durch die äußerste Knappheit aller Einträge und
Konzentration auf herausragende Objekte blieben die alten Dehios trotz
primärer Gliederung der Beschreibungen nach Bautypen auch für den
konkreten Stadtrundgang überschaubar und praktikabel. Für die neueren
Ausgaben des Dehio kann dies längst nicht mehr für alle Ortseinträge
gelten. Wo Ortseinträge inzwischen allzu umfangreich geworden sind,
greifen diese alten Strukturen nicht mehr und führen zu
Unübersichtlichkeit; im konkreten Besichtigungsfall sind hier Grenzen
der Praktikabilität erreicht.
Dies läßt sich am Leipzig-Eintrag der vorliegenden Dehio-Ausgabe
exemplifizieren. Bei einer Besichtigung von Denkmälern der Leipziger
Innenstadt bedeutet dies, die Beschreibung der Thomaskirche im
Hauptkapitel Sakralbauten auf den Seiten 496 - 502 suchen zu müssen,
die des umliegenden Thomaskirchhofs dagegen im Kapitel Wohn- und
Geschäftshäuser im Alphabet der Straßen und Plätze auf den Seiten 533
- 534 (somit nicht in unmittelbarem Anschluß an die Beschreibung der
Thomaskirche, aber auch nicht - wie noch zu vermuten gewesen wäre - in
der Rubrik Platzanlagen, S. 510 - 511). Die Beschreibung des
Bachdenkmals auf dem Thomaskirchplatz ist wiederum in der Rubrik
Brunnen und Denkmäler auf S. 538 zu finden. Informationen zum Gebäude
der Thomasschule werden andererseits direkt bei der Beschreibung des
Thomaskirchhofs geboten und nicht gesondert in der Rubrik Öffentliche
Gebäude, wo im anderen Fall die Beschreibung der Alten Nicolaischule
am Nikolaikirchof zu suchen gewesen wäre. Nicht immer sind also die
Ordnungsmuster konsequent durchgehalten. Brauchbares Kartenmaterial,
um die Objekte wirklich lokalisieren und mit den jeweiligen
Texteinträgen in Verbindung bringen zu können, fehlt. Dehio-typische,
also "impressionistische" Lagepläne, wie auf S. 486 zum Stadtzentrum
geboten, sind für die konkrete Objektlokalisierung ohne großen Nutzen;
hier bietet der einfachste Touristenführer mehr Hilfe beim Rundgang.
Auch direkte Querverweisungen zwischen den einzelnen
Objektbeschreibungen sind - da ohne Seitenangabe - nur bedingt
hilfreich. Wer hier auf den Dehio als einzigen Begleiter für einen
Besichtigungsrundgang vertraut, wird Suchen und Blättern bald zu den
Handbuch-Vorzügen der besonderen Art zählen.
Auch die Behandlung abgegangener Denkmäler ist ein interessanter
Aspekt für die Positionierung der Dehios in der aktuellen Konzeption
gegenüber Großinventaren. Es zeigt sich nämlich, daß die Dehio-Bände
inzwischen über eine Beschreibung existenter (und zu besichtigender)
Kunstdenkmäler stellenweise durchaus hinauszielen. Dies läßt sich
erneut am Leipzig-Eintrag illustrieren. Wie sonst vor allem in
Großinventaren üblich, werden nun auch hier abgegangene Denkmäler
nicht mehr nur mit einem Hinweis im Rahmen der Überblickstexte
bedacht, sondern mit ausführlichen Einzeleinträgen. So wird bei der
Einzeldenkmalbeschreibung für Leipzig in beachtlichem Umfang die 1968
gesprengte Universitätskirche St. Pauli berücksichtigt; selbst
Beschreibungen ihrer Ausstattungsstücke und Hinweise auf den heutigen
Verbleib werden an dieser Stelle geboten. Sicher ist gerade diese
herausragende Berücksichtigung der Universitätskirche im Rahmen des
Leipzig-Eintrags zum einen Reverenz an ihren exponierten Stellenwert
als vormals dritte bedeutende Leipziger Innenstadtkirche der Spätgotik
und zugleich Ausdruck einer aktuell immer noch spürbaren Narbe, die
die Sprengung dieses Denkmals hinterließ. Über den konkreten Fall
hinaus ist sie jedoch auch Indiz dafür, daß die jüngere
Dehio-Konzeption längst in Richtung einer grundsätzlichen
Berücksichtigung aller für eine Stadt bedeutenden Denkmäler zielt, in
diesem Sinn daher auch vom Aspekt aktueller Existenz des Denkmals und
damit gegebener Besichtigungsmöglichkeit gelegentlich abstrahiert.
Diese am Band Sachsen II illustrierten, aber für alle Dehio-Ausgaben
der 90er Jahre mehr oder weniger zutreffenden Hinweise dürften
ausreichen, um zu verdeutlichen, daß mit gewachsenem
Verzeichnungsanspruch und Verzeichnungsumfang in den aktuellen
Dehio-Ausgaben der Nutzen der Bände als praktisches Begleithandbuch
vor Ort spürbar an seine Grenzen stößt bzw. nicht mehr vorrangige
Zielsetzung ist - entgegen aller Vorwortbeteuerungen. Damit ist aber
leider nicht automatisch ein augenfälliger Nutzenzugewinn für die
Funktion der Dehios als reines Nachschlagewerk entstanden. Auch für
diese Nutzung bleiben die umfangreicheren Ortseinträge der aktuellen
Dehio-Ausgaben allzu unübersichtlich. Um wirklich als Nachschlagewerk
uneingeschränkt fungieren zu können, bedürften die Dehio-Bände
dringend zumindest eines Objektregisters, wie es selbst die
einfacheren Reclam-Kunstführer zu ihren besten Zeiten bereits
auszeichnete. Mit zunehmender Expansion der Objektverzeichnung haben
sich so Vorzüge des ursprünglichen Dehio-Konzepts in ihr Gegenteil
verkehrt; es bedarf nun einer besseren bzw. den (quantitativen)
Veränderungen angepaßten Strukturierung und Erschließung der
Einzeleinträge. Da Bibliotheken und wissenschaftliche Nutzer weniger
die Reiseführerqualitäten des Dehio denn seine Qualitäten als
handhabbares Nachweisinstrument interessieren, wird dieser Aspekt für
die Bewertung zukünftiger Dehio-Bände zentral sein.
Diese auf den ersten Blick sehr kritisch anmutenden Ausführungen zu
Einzelaspekten der aktuellen Dehio-Konzeption sollen keineswegs die
insgesamt herausragenden Leistungen des Gesamtunternehmens überdecken
oder gar ausschließlich auf die zur Rezension vorliegenden Bände
bezogen werden. Vielmehr war insbesondere der Sachsen-Band nur
Ausgangspunkt, wichtige Einzelaspekte der Gesamtedition erneut und
eher grundsätzlich zu beleuchten. Daß im konkreten Fall allein schon
die Vorlage einer Denkmälerübersicht für Sachsen und Thüringen in
dieser Ausführlichkeit und in relativ kurzer Zeit erreicht wurde,
bleibt unbestrittenes und nicht hoch genug einzuschätzendes Verdienst
aller Beteiligten. Schon damit allein werden lange bestehende Mängel
beim Nachweis der Denkmäler beseitigt, wie das Beispiel Thüringen
besonders deutlich illustriert. Gerade aber weil Bibliotheken
vorrangig diesen Nachschlagecharakter der Dehio-Bände sehen, müssen
auch editorisch-konzeptionelle Schwachstellen auf Dauer deutlicher
wahrgenommen werden. Sie ließen sich mit wenigen "Eingriffen" durchaus
beheben: Um den Charakter der aktuellen Dehio-Edition als
Nachweisinstrument von Kunstdenkmälern zu optimieren, wäre es
erforderlich, vor allem Register, Übersichten, Verweisungen und
Kartenbeigaben deutlich zu vermehren und zu präzisieren. Wir sind uns
bewußt, daß diese zusätzlichen Anforderungen arbeits- und damit
kostenintensiv und leider auf den ersten Blick wenig spektakulär und
damit verkaufsfördernd sind. Sie würden aber erst die bereits
erbrachten außerordentlichen Leistungen dieser Publikationen optimal
nutzbar machen.
Angela Karasch
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