Die Enzyklopädie zum zeitgenössischen Theater ab 1945 soll d'Amicos
Enciclopedia dello spettacolo[1] ergänzen und teilweise ersetzen, wobei
als Zielgruppe vor allem Theaterkritiker und Praktiker definiert
werden. Sie ist auf sechs Bände angelegt, von denen die ersten fünf
bereits vorliegen und nur noch Vol. 6. General Index and references
aussteht. Im Zentrum des Interesses sollte dabei, nach Maßgabe der
Herausgeber, Theater als Teil soziokultureller Systeme und Reaktion
auf gesellschaftliche Verhältnisse stehen, ein Anspruch der sich in
der zugrunde liegenden Theaterdefinition allerdings kaum wiederfindet:
"Theatre: A created event, usually based on text, executed by live
performers and taking place before an audience in a specially defined
setting. Theatre uses techniques of voice and/or movement to achieve
cognition and/or emotional release through the senses. This event is
generally rehearsed and is usually intended for repetition over a
period of time."[2] Diese Theaterdefinition kann ihre Herkunft aus der
Tradition des literarisch orientierten europäischen Sprechtheaters,
wie es am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
verbreitet war, kaum verleugnen. Auch wenn die Formulierungen
generally/usually andere, z.B. improvisierte Theaterformen zulassen,
so werden doch Genres wie das mechanische Theater, Objekttheater oder
das Happening/die Performance ausgeschlossen, Theaterformen ohne
literarische Tradition in den Hintergrund gedrängt, eine
Vorgehensweise, die besonders in Anbetracht des internationalen
Anspruches des Projektes sowie der jüngsten stilistischen
Entwicklungen kaum zu rechtfertigen ist. Fernsehen und Radio wurden
aus Gründen der Überschaubarkeit per definitionem ausgeschlossen.
Der Band beginnt mit einer Reihe von kurzen Artikeln, die eine
Einführung zu den durchgängigen Themen der Länderessays bieten sollen:
Zum europäischen Theater seit dem Zweiten Weltkrieg (Péter Nagy ;
Philippe Rouyer), zum Musiktheater (Horst Seeger), zum Tanztheater
(Selma Jeanne Cohen), zum Kinder- und Jugendtheater (Wolfgang
Wöhlert), sowie zum Puppentheater (Henryk Jurkowski).
In ihrer Einführung[3] erläutern Nagy und Rouyer die Intentionen, die
zur Erarbeitung des ersten Bandes der World encyclopedia of
contemporay theatre (WECT) führten. Nach dem Ende der kommunistischen
Regierungen, der Auflösung des sog. Ostblocks und der (Re-)
Etablierung einer großen Zahl von Staaten in Osteuropa konstatieren
die Autoren eine noch bestehende Grenze zwischen West- und Osteuropa,
welche nicht in erster Linie politisch bestimmt werde, sondern
religiöse und kulturelle Traditionen widerspiegele, wie sie durch die
Spaltung des Christentums, das Ottomanische und das Habsburgische
Reich geschaffen wurden. Sie betonen die Brückenfunktion der
Grenzstaaten, sowohl innerhalb der kulturellen Grenze Europas - die
sie als imaginäre Linie von Tallinn bis Dubrovnik ansetzen - als auch
an den Grenzen des entstehenden vereinten Europas. Der erste Band der
WECT solle einerseits die europainternen kulturellen Grenzen zwischen
Ost und West durchlässiger machen und den innereuropäischen Austausch
auch über die Grenzen der Europäischen Gemeinschaft hinweg fördern,
andererseits zur Etablierung einer Europakultur beitragen, die als
Vorreiter politischer Entwicklungen fungieren und der Abgrenzung
gegenüber anderen Kulturräumen und Medien dienen solle.
Die Angst der Verdrängung des Theaters durch neue Medien (Fernsehen,
Computertechnik etc.) dient den Autoren als Katalysator zur
Konstruktion einer neuen Variante der alten Nationaltheateridee,
diesmal im europäischen Gewand. Der - unterstellten - Beliebigkeit
moderner Medien und Kommunikationsformen soll eine einheitliche
kulturelle Front entgegengesetzt werden: ein Versuch, der nur zum
Scheitern verurteilt sein kann. In den letzen Jahren läßt sich
vielmehr die Rückbesinnung auf spezifische kulturelle Traditionen, sei
es nationaler, religiöser, regionaler oder sprachlicher Art,
einerseits, und die produktive Aneignung fremder kultureller Formen
andererseits, beobachten. Der von den Autoren postulierte
kulturpolitische Zweck der Enzyklopädie ignoriert die Theaterpraxis
und trägt nicht zur Erhellung des Gegenstandes bei.
Die Tendenz, neueste Entwicklungen zu übersehen wird in den 47
Länderartikeln wieder aufgenommen. Zwar wurde der Entstehung neuer
Staaten während der Erarbeitungsphase des WECT Rechnung getragen, so
daß sich historisch angelegte Überblicksartikel z.B. zur UdSSR,
Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Spezialartikel zu den neu
entstandenen Staaten, wie Kroatien, Serbien-Montenegro, Lettland,
Litauen etc. ergänzen, doch sind die einzelnen Artikel, auch wenn der
besprochene Zeitraum bis 1992 reicht, nicht auf dem neuesten Stand.
Dies zeigt sich unter anderem am Artikel zum deutschen Theater,
welcher die getrennte Entwicklung der Theaterlandschaft in den beiden
deutschen Staaten erläutert, aber auf die Veränderungen nach 1989
nicht näher eingeht. Ließe sich dieser Mangel noch durch die zeitliche
Verzögerung erklären, die mit der Fertigstellung derartiger
Großprojekte einhergeht, so verwundern doch die z.T. fehlerhaften
Angaben. Ein Beispiel: Theaterwissenschaftliche Institute gebe es
ausschließlich in Berlin (Ost und West) in München und in Köln.
Die Länderartikel weisen eine einheitliche Struktur auf, die sowohl
eine thematische Lektüre quer durch alle Länderartikel, als auch eine
nationenbezogene Lektüre ermöglichen. Sie enthalten: 1. Historische
Einführung, 2. Struktur der nationalen Theatergemeinschaft, 3.
Künstlerisches Profil: a) Truppen und Ensembles, b) Dramaturgie, c)
Direktoren, Regisseure und Produktionsformen, 4. Musiktheater, 5.
Tanztheater, 6. Kinder- und Jugendtheater, 7. Puppentheater, 8.
Bühnenbild/Ausstattungswesen, 9. Spielstätten/Theaterbau, 10.
Ausbildung, 11. Kritik, Forschung, Veröffentlichungen, 12.
Weiterführende Literatur. Sie bieten eine knappe, aber gut
strukturierte Überblicksdarstellung zu wichtigen Tendenzen und
Persönlichkeiten des jeweiligen Staates. Positiv zu bewerten sind die
Angaben zur Struktur der Theaterlandschaft (regionale Verteilung und
innere Struktur der Theater, Angaben zur Finanzierung,
Besucherstatistik, Organisationen), zur Ausbildung und Kritik, die
andere Nachschlagewerke im allgemeinen vernachlässigen. Die
weiterführende Literatur dagegen könnte etwas ausführlicher aufgeführt
werden.
Trotz aller Vorbehalte, die Konzeption und die Ausführung betreffend,
liegt mit dem ersten Band der WECT über Europa ein Nachschlagewerk
vor, das den schnellen Zugriff auf Informationen zu Ländern bzw.
Themen gewährleistet, die in anderen gängigen Nachschlagewerken meist
unterrepräsentiert sind.
Peter Schmitt
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