Von der inzwischen auf vier Textbände und einen Registerband konzipierten Theatergeschichte sind von 1993 bis 1999 die ersten erschienen; Bd. 4 für das 20. Jahrhundert ist für Mitte 2000 angekündigt, Bd. 5 mit Register und Materialien für 2001. Die Strukturierung der ersten Bände folgt Kriterien, die den jeweils innovativen und wichtigen Teilbereichen der Theaterkultur entsprechen. Kurzanalysen von Dramentexten markieren die literaturgeschichtliche Komponente der Theaterwelt im ersten Band, die in dieser knappen Auswahl der für die Bühnengeschichte wichtigen Texte durchaus überzeugt. Neben der Literaturgeschichte, in der Tragödie, Komödie und Satyrspiel in gleicher Weise berücksichtigt sind, stehen für Griechenland wie Rom die sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die Entstehung des Theaterbaus und der Ausstattung sowie der philosophische und theatertheoretische Kontext im Vordergrund der Darstellung. Zahlreiche Szenenfotos aus Inszenierungen des 20. Jahrhunderts illustrieren die zurückliegenden Epochen. Sie machen anschaulich, daß sich das Ereignis "Theater" immer aus zahlreichen Traditionslinien der Texte, Inszenierungen und Darstellungsformen zusammensetzt, die jeweils neu interpretiert werden und sich gleichzeitig in diese Überlieferung einreihen, - auch wenn sie als Gegenentwürfe konzipiert sind. Hinzu kommt bei der Lektüre ein Erfahrungshorizont des Publikums bzw. der Leserschaft, die durch die photografische Dokumentation an eigene Theatererlebnisse erinnert werden und so eine historische wie aktuelle Konkretisierung der Theatergeschichte erfahren. Die Gefahr, die Theatergeschichte des Mittelalters nicht als einen erratischen Block zwischen Antike und Renaissance zu plazieren, umgeht Brauneck durch eine Betonung der jeweiligen Schnittstellen im frühen und späten Mittelalter. Eine Anbindung ist einerseits im Zusammenspiel ritueller, kultischer Formen gegeben, andererseits nehmen Gesten und Gebärdensprache des späten Mittelalters durchaus theatralische Sprachen der folgenden Zeit vorweg. Dennoch muß in diesem Kapitel die Geschichte der Kirche und der Frömmigkeitspraxis überwiegen, ohne die die Theaterformen der Passions- und Osterspiele, der Mysterien- und weltlichen Fastnachtsspiele nicht denkbar wären. Sehr deutlich wird der fließende Übergang zwischen einer Theatralisierung der Liturgie und der liturgischen Gestaltung des Theaters. Mit der Zeit des Spätmittelalters läßt Brauneck die topographische Differenzierung der regionalen Theatergeschichte beginnen, die im Bereich der romanischen Länder einen nahtlosen Übergang in die Zeit des Humanismus und der Renaissance ermöglicht. Hier leiten Anmerkungen zum Profil der Epoche in die jetzt unumgängliche Aufteilung nach Regionen (Italien / Frankreich / Spanien und Portugal / Deutschland, Österreich und die Schweiz / Niederlande / England) über. Zwar sind Schwerpunkte gesetzt - das Theater Shakespeares nimmt z.B. einen breiten Raum der Darstellung ein -, dennoch wird jeder Theaterkultur eine angemessene Betrachtung geschenkt.
Die beiden folgenden Bände greifen diese Einteilung auf, wobei sich jetzt die regionale Ausprägung immer weiter differenziert. Auch für das 17. und 18. Jahrhundert konzentriert sich die Darstellung auf das Sprechtheater. Oper und Ballett sind nur insoweit berücksichtigt, als sie für die strukturellen Aspekte des Theaterwesens und die Neuerungen der Bühnenästhetik bedeutsam waren (Vorwort). Diese Einschränkung mag zunächst enttäuschen, wird aber bei der Lektüre plausibel, da sie zur Übersichtlichkeit beiträgt und das breite Feld einer Geschichte der Oper anderen Publikationen überläßt.
Unter sozialhistorischen Kriterien werden die Theater des höfischen und bürgerlichen Zeitalters in ihren jeweiligen Koordinaten (Architektur, Bühne, Regie, Dramentexte, Schauspieler, Publikum) vermessen. Brauneck setzt bei der Darstellung der Theatergeschichte der einzelnen Länder jeweils für die Zeitabschnitte Zwischen Renaissance und Aufklärung, Theater im 18. Jahrhundert, Von der Romantik zum Beginn der Moderne und Vom Naturalismus bis zum Aufkommen der Avantgarde-Bewegungen um 1910 neu an. Diese übersichtliche Einteilung nimmt in Kauf, daß Entwicklungslinien und historische Zusammenhänge argumentativ auseinandergerissen werden. Je mehr sich Braunecks Geschichte der Moderne nähert, in der - nach seinen eigenen Worten - ein nie gekanntes Ausmaß der Theaterproduktionen beschrieben werden muß, desto schwieriger wird eine klare Strukturierung der Theatergeschichte Europas. Die Heterogenität des Gleichzeitigen und die Globalisierung kultureller Entwicklungen machen sowohl die chronologische als auch die topographische Differenzierung fraglich. Abgesehen von den einzelnen Nationaltheaterbewegungen des 19. Jahrhunderts, ist der Aspekt der nationalen oder geographischen Abgrenzung nicht mehr ausschlaggebend. Z.B. überrascht die Zuordnung der die Theatermoderne des 19. Jahrhunderts prägenden Autoren wie Shaw oder Ibsen zu ihren "Heimatländern", da die Dramaturgie dieser Stücke gerade in anderen europäischen Ländern zu revolutionären Synergien mit der zeitgenössischen Regie fand. Fragt man sich, warum Konstantin Stanislawskijs Künstlertheater in Moskau auf weniger als 20 Seiten dokumentiert ist und Edward Gordon Craig gerade einmal fünf Seiten gewidmet sind, so zeigt sich bei der Lektüre, daß hier vermutlich die Schere der Darstellung in zeitlichen Ausschnitten die Verantwortung trägt und diese für das 20. Jahrhundert maßgeblichen Entwicklungen der Regie erst im vierten Band ausführlicher zu finden sein werden.
Trotz dieser durch die Gliederung in Kauf genommenen Kompromisse bleibt offensichtlich, daß die Fülle der Informationen, die Braunecks Theatergeschichte bietet, nicht in einer synoptischen Gesamtschau für das europäische Theater hätte geleistet werden können.
Der Titel Die Welt als Bühne bietet entsprechend einer Assoziation des barocken Welttheaters selbst ein in seiner schriftlichen Dramaturgie zwingendes und auch für die bildliche Anschauung faszinierendes Theatererlebnis. Die zahlreichen Abbildungen zeigen Werke der bildenden Kunst, die in ihren Themen und Motiven Aufschlüsse über die zeitgenössische Gesellschaft und ihre theatralen Sozialisationsformen geben. Daneben sind Pläne und Dokumentationen von Szenenbildern, Kostümkunden und Theaterbauten zu sehen. An die Stelle eines umfangreichen Anmerkungsapparates treten in Form von Spaltenkommentaren Zitate aus einschlägigen wissenschaftlichen Texten, die eine optisch angenehme und neutrale Gegenüberstellung von Braunecks Interpretation und zurückliegenden Forschungen ermöglichen. Dieses Layout wahrt die Form der gut lesbaren Überblicksdarstellung, läßt aber Braunecks Text nicht isoliert erscheinen und weist auf Vorbilder seiner Studien hin.
Mit Braunecks Theatergeschichte entsteht eine europäische
Kulturgeschichte, die - zumindest im Bereich der Theaterwissenschaft -
kaum Vergleichsmöglichkeiten bietet. Dennoch soll an die zwischen 1957
und 1972 erschienene zehnbändige Theatergeschichte Europas von Heinz
Kindermanns[1] erinnert werden. Es ist vielleicht kein Zufall, daß sich
Brauneck nicht auf diesen "Vorläufer" bezieht. Obwohl auf den ersten
Blick ähnlich strukturiert und mit ähnlich programmatischem
Wissenschaftsethos einer Theaterbegeisterung vorgetragen,
unterscheiden sich die beiden Standardwerke doch grundlegend. Bei
Kindermann ist die Ereignisgeschichte tonangebend. Die regionale
Einteilung, die auch für das 19. und 20. Jahrhundert systematisch
fortgesetzt wird, dient nicht zuletzt der Ideologie eines europäischen
Kulturwettbewerbs, in dessen Profilierungsphasen sich auch die
gemeinsamen Züge einer spezifisch europäischen Theaterkultur
entwickelt hätten. "Im Renaissance-Zeitalter hingegen ergibt sich zum
erstenmal die völlig anders geartete Situation, daß das Theater einer
Nation - als Exponent ihres Kulturgepräges - das der übrigen Völker
weit überragt, weil es ihnen allen mit grundlegend neuen Ideen und
Gestaltungsweisen voraneilt und nun versucht, auch die theatralischen
Erscheinungsformen der übrigen Völker zu diesen neuen Idealen zu
führen" (Bd. 2, S. 13). Diese Tendenz weist auf methodische
Voraussetzungen hin, die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
stammen.[2] Unter diesem Aspekt - und auch hinsichtlich Lesbarkeit und
Bilddokumentation - hat Die Welt als Bühne Kindermanns
Theatergeschichte Europas ersetzt. Als Nachschlagewerk bieten die
Register der Theatergeschichte Europas sicher auch in Zukunft gezielt
Auskunft über Personen und Ereignisse, die - jenseits der
Kulturgeschichte - bei Kindermann ausführlicher dargestellt sind.
Während man bei Brauneck neben der Informationsfülle auch Freude an
der Lektüre gewinnt, wird sich diese Art der Rezeption bei Kindermann
sicher nur noch vereinzelt ergeben. Eine Ausnahme bildet der zehnte
und letzte Band, in dem verschiedene Beiträger für die einzelnen
Regionen verantwortlich zeichnen. Jenseits politischer Implikationen
wird hier [1972 !] die osteuropäische Theaterkultur zwischen
Naturalismus und Expressionismus (bis 1938/39) dargestellt. Dieser
Grat der Differenzierung wird eventuell durch Braunecks vierten Band
nicht ersetzt werden können. Wer zumindest Teile seiner neuen Form
einer Universalgeschichte der Welt (als Bühne) gelesen hat, wird sich
aber auf das Erscheinen des letzten Teils freuen. Nach Erscheinen des
abschließenden Registerbandes wird voraussichtlich eine ideale
Kombination zwischen enzyklopädischer Lektüre und den Möglichkeiten
gezielten Nachschlagens erreicht sein.
Ulrike Steierwald
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