In einer für deutsche Sichtweisen leider immer noch ungewohnten Transparenz stellt Curtis L. Carter im Vorwort die Finanzierung des durch den NEH (National Endowment for the Humanities) und die Dance Perspectives Foundation sowie zahlreiche Sponsoren verwirklichten Projektes dar. Ebenso offen erfährt der Leser die mit der Realisierung verbundenen Schwierigkeiten. Die konsequente Einlösung des Anspruchs der Internationalität führte bei den Verlegern zu offenen Fragen der Übersetzung, der Datenformate und der Urheberrechte, so daß die Enzyklopädie allein dreimal das Verlagshaus wechseln mußte. Dennoch hat sich das konsequente Festhalten an den in den siebziger Jahren formulierten Zielen bewährt. Da man auch in den USA noch nicht von der akademischen Disziplin einer "Tanzwissenschaft" ausgehen konnte, schien zunächst die Zielgruppe für ein derart umfangreiches Lexikon zu fehlen. Jetzt ist ein Nachschlagewerk entstanden, das sowohl für die aktuelle Ereignisform des Tanzes mit seinen Akteuren und Rezipienten interessant ist, als auch Antworten auf wissenschaftlich relevante Fragestellungen im interdisziplinären Rahmen geben kann. Theoretische Grundlage für diese Leistung ist ein weiter, nicht festgelegter Begriff des Tanzes, der alle Formen des "body movements" in seinen rituellen, sozialen oder theatralen Funktionen umfaßt. Konsequent liegen die Schwerpunkte der einzelnen Miszellen daher in der Analyse aktueller wie historischer Formen des Tanzes einzelner Länder und Gebiete, in der Beschreibung ihrer ästhetischen Grundlagen und der Kontexte im Bereich der Musik, der Bühne, der Kleider/Kostüme sowie der medialen Voraussetzungen. Zu diesen Informationen gelangt der Leser über Regionalbegriffe, über Personennamen, Körperschaften, Choreographien, Werktitel und Sachbegriffe. Vernetzt werden die Einträge über einen umfangreichen Index der Namen und Sachbegriffe im sechsten Band, eine alphabetisch Aufführung der Artikel und eine Zuordnung der in den Bänden alphabetisch geordneten Begriffe in eine systematische Gliederung (synoptic outline of contents). Es bleibt zu vermuten, daß sich diese Zugriffsmöglichkeiten mittelfristig in einer Datenbank noch komfortabler nutzen lassen werden.
Die Encyclopedia wäre ohne die redaktionelle Leistung der Oxford University Press, die das Projekt seit 1994 betreute, sicher nicht zustande gekommen. Der Beitrag des Verlages, der in den letzten Jahren auch durch andere Großprojekte zu einem neuen Standard kulturwissenschaftlicher Lexika beigetragen hat, ist nicht zu überschätzen. Die redaktionelle Vereinheitlichung der Artikel von über 650 internationalen Beiträgern, die hohe Qualität der jedem der 2157 Einträge folgenden bibliographischen Angaben (inklusive der Hinweise auf Archive, Videos und Interviews) sind nur ein Teil der redaktionellen Arbeiten, die notwendig waren, um das 1993 in eine Formkrise geratene Projekt aufzufangen. Über 2000 Fotos wurden erst durch ein Team des Verlages neu recherchiert und ausgewählt. Die völlig getrennte Entwicklung von Text- und Bildteil hat vermutlich zu dem Eindruck der sehr homogen, aber auch ein wenig langweilig und hinzugefügt wirkenden Schwarzweißabbildungen geführt. Dieser Aspekt sollte allerdings nicht überbewertet werden, da man sich über die Notwendigkeit bildlich visueller Gestaltung enzyklopädischer Lexika ohnehin streiten kann. Die Zusammenarbeit zwischen Herausgebern und Verlag hat zu einem unvergleichlichen Standardwerk geführt, das nicht nur Quelle für alle mit dem Tanz befaßten Disziplinen sein wird. Das Lexikon hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema selbst fortgeschrieben und ihr eine neue Qualität gegeben.
Während die Encyclopedia of dance auf die anthropologische Dimension
des Tanzes in seinen interkulturellen Relationen zielt, liegt mit dem
zweibändigen International dictionary of ballet ein Lexikon vor, das
in einer personen- und werkorientierten Methode auf eine klare
Abgrenzung des Ballettbegriffs achtet. Modernes Tanztheater wird
systematisch ausgeklammert[1] und findet höchstens in einzelnen
Einträgen im Hinblick auf das Ballett Erwähnung. Durch die
gattungsbezogene Definition beschränkt sich die Internationalität der
Darstellung auf Rußland, die USA und Europa. Die Beiträge
konzentrieren sich auf die Biographien und Werk- bzw.
Rollenverzeichnisse der Tänzer, Choreographen und Kompanien sowie eine
Darstellung der Choreographien, die auch hinsichtlich
Komposition/Komponist und Aufführungsgeschichte Beachtung finden. Die
mit diesen Kurzbiographien, Rollen- und Werkverzeichnissen sowie
Bibliographien erreichten Dokumentationen der Ballettgeschichte (bis
1991) werden durch die Encyclopedia nicht ersetzt. Die Abbildungen
(schwarzweiß) sind von wesentlich besserer Qualität und werden der
Körperästhetik des Tanzes zumindest annähernd gerecht. Dieser Ästhetik
haben sich auch viele der 160 Beiträger kaum entziehen können, so daß
sich in vielen Biographien dieses sehr traditionellen Lexikons
überschwengliche Beschreibungen der jeweiligen Ausdrucksformen finden.
Diese euphorisch sublimierte Kultur der Körperlichkeit entspricht
natürlich dem Sujet und macht das Dictionary selbst zu einem Dokument
der Ballettgeschichte. Die Zuordnung der zahlreichen Biographien
(insgesamt 750 Einträge) zu einzelnen Berufen und Ländern ist im
Anhang des zweiten Bandes durch einen Index der Länder bzw. Berufe
möglich.
Ulrike Steierwald
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