Bei einem so umfangreichen und unterschiedliche Disziplinen umfassenden Lexikon ist es unvermeidlich, daß Wünsche offen bleiben und Spezialisten Stichwörter zu ihrem Fachbereich vermissen; ebenso könnte man auf bisweilen fehlende Verweisungen aufmerksam machen oder Schwerpunkte lieber etwas anders gesetzt sehen. Doch all dies fällt nicht ins Gewicht angesichts der hier versammelten Fülle von Informationen. Die am Ende von Bd. 9 für das Gesamtwerk zusammengestellte Errata-Liste von zweieinhalb Seiten legt in ihrer Kürze Zeugnis von der hohen Qualität der redaktionellen Betreuung des Riesenunternehmens ab. Die Beigabe einer Auswahl übergreifender Sachartikel und die Auflistung der Personen- und Ortsnamen, die zwar kein eigenes Stichwort erhalten haben, aber dennoch in anderem Zusammenhang dargestellt werden konnten, dürfte sich als ebenso sinnvolle Ergänzung und Arbeitshilfe erweisen wie die umfangreichen Regentenlisten und Stammbäume, die sich im selben Bd. 9 finden.
Kritik an Einzelheiten, die angesichts der überwältigenden
Gesamtleistung an Mäkelei grenzte, soll hier nicht vorgebracht werden.
Stattdessen erscheint es angebracht, das LexMA mit zwei
Nachschlagewerken zu vergleichen, die als die führenden
Mittelalterlexika im englischen und französischen Sprachraum gelten
können. Bald nach dem LexMA, im Jahr 1982, begann das amerikanische
Dictionary of the middle ages (DMA) unter Beteiligung von rund 1300
Beiträgern zu erscheinen; es lag bereits 1989 in zwölf Bänden plus
Registerband abgeschlossen vor. Im Jahr 1997 schließlich erschien der
zweibändige, unter der Leitung von André Vauchez erarbeitete
Dictionnaire encyclopédique du moyen âge (DEMA),[3] für den indes gleich
im Vorwort betont wird, daß es schon aufgrund seiner "taille
restreinte" nicht beabsichtigt sei, zu den beiden weitaus
umfangreicheren Lexika aus Amerika und Deutschland in Konkurrenz zu
treten. Allen drei Lexika ist gemeinsam, daß sie nicht nur den
lateinisch geprägten abendländischen Teil Europas, sondern auch den
byzantinischen, slawischen und (mediterran-)islamischen Bereich in
angemessener Weise berücksichtigen. Ebenso ist dankbar zu vermerken,
daß in allen drei Nachschlagewerken zu fast allen Artikeln
weiterführende Literaturhinweise gegeben werden, die zwar auch mit
Rücksicht auf die potentiellen Sprachkenntnisse der Benutzer im
jeweiligen (deutschen, englischen, französischen) Sprachraum
zusammengestellt wurden, die internationale Forschung aber in der
Regel dennoch hinlänglich dokumentieren. Im Hinblick auf
Internationalität schneidet das LexMA mit seinen bibliographischen
Hinweisen im Vergleich zu den beiden anderen Werken am besten ab.
Das LexMA übertrifft auch mit seiner wesentlich größeren Anzahl von
Artikeln die beiden anderen hier zum Vergleich herangezogenen Lexika.
Dies gilt insbesondere für die Berücksichtigung von mittelalterlichen
Personen. So finden sich im LexMA etwa für den bereits im Mittelalter
international beliebten Namen Johannes insgesamt 192 Träger dieses
Namens unter jeweils eigenem Stichwort behandelt (gegenüber ca. 40 im
DMA und 58 im DEMA), und unter dem Namen Thomas stößt man im LexMA auf
63 Einträge (DMA 8, DEMA 11). Ein Vergleich der Einträge zum Namen
Ulrich ergibt ein aufschlußreiches Bild: Während im LexMA 26 Personen
dieses Namens, darunter zehn volkssprachliche Autoren, aufgeführt
sind, finden sich im DEMA nur zwei (St. Ulrich von Augsburg und der
Dominikaner Ulrich von Straßburg), im DMA hingegen acht, und zwar
ausschließlich bildende Künstler und Dichter! Darin spiegelt sich in
gewisser Weise die Wahl von Schwerpunkten wider, denn generell ist im
DMA der deutschsprachige und skandinavische Bereich verhältnismäßig
ausführlich, im DEMA aber eher schwach berücksichtigt.
In allen drei Lexika findet sich eine Vielzahl von oft ausführlichen
Artikeln zu Begriffen aus den Bereichen Philosophie, Theologie, aus
Wirtschafts-, Kultur-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Zum Umfang
der Ausführungen zu einzelnen Stichwörtern ist anzumerken, daß diese,
soweit sie in allen drei Nachschlagewerken vorkommen, vielfach eine
ähnliche Ausführlichkeit aufweisen; allerdings enthält das LexMA eine
sehr große Zahl kürzerer Artikel, die in den beiden anderen Lexika
nicht zu finden sind.
Von den drei Lexika ist das LexMA am sparsamsten mit Abbildungen
(meist Strichzeichnungen) versehen; selbst im Vergleich zum
zurückhaltend mit Bild- und Kartenmaterial ausgestatteten Lexikon der
Alten Welt ist hier deutlich restriktiver entschieden worden. Geradezu
opulent ist dagegen die Zahl und Qualität der Illustrationen im DEMA,
deren Auswahl als ausgesprochen glücklich bezeichnet werden darf, da
die in den Text eingestreuten Schwarzweißillustrationen in der Regel
die Artikel in hervorragender Weise ergänzen. Dies gilt leider nicht
in der gleichen Weise für die in exzellenter Qualität gedruckten
Farbtafeln, die in vielen Fällen nicht mit den entsprechenden Artikeln
verknüpft sind. Eine Mittelstellung nimmt das DMA ein, das jeweils in
direkter Nachbarschaft zu den betreffenden Artikeln eine ansehnliche
Zahl von Schwarzweißabbildungen und Karten in meist
zufriedenstellender Wiedergabequalität umfaßt.
Die bereits erwähnten Beigaben in Bd. 9 des LexMA (übergreifende
Sachartikel sowie Orts- und Personennamen, die keinen eigenen Artikel
erhalten haben aber anderweitig erwähnt werden) werden durch den
eigentlichen Registerband ergänzt. In ihm sind 15 Fachbereiche durch
eine Zusammenstellung der betreffenden Stichworte vertreten. Dabei
handelt es sich um den islamischen, jüdischen, byzantinischen,
russischen, skandinavischen und irischen Bereich; um die französische,
italienische, iberische, deutsche und englische Sprache und Literatur
sowie um die Spezialgebiete Architektur, Numismatik, Waffenkunde und
Medizin/Pharmazie. Die Beschränkung auf gerade diese Fachbereiche wird
von den Bearbeitern im kurzen Vorwort zu diesem Band nicht begründet.
Leider wurde auf eine weitere Untergliederung der 15 Einzelgebiete
verzichtet, die den vergleichbaren, aber weiter gespannten Index im
DEMA (classement raisonné) auszeichnet. Die Wiederholung aller im
LexMA gegebenen Hauptverweisungen erscheint von geringem Nutzen. Ein
knapp 250 Seiten starkes Mitarbeiterverzeichnis dokumentiert unter
Angabe von Band- und Spaltenzahl penibel, welche Autoren für welche
Artikel bzw. Passagen verantwortlich zeichnen. Diesen Raum hätte man
besser komprimiert und für ein Register genutzt, wie es in äußerst
informativer und benutzerfreundlicher Weise dem DMA beigegeben wurde.
Obwohl zu den meisten Artikeln des DMA direkte Hinweise gegeben
werden, unter welchen Stichwörtern ergänzende Informationen zu finden
sind, hat man nicht die Mühe gescheut, ein hochdifferenziertes und
umfassendes Register zu erstellen. Der Herausgeber des DMA, Joseph R.
Strayer, wird zu Beginn des Registerbandes mit den Worten zitiert, der
Index sei der wichtigste Band des DMA. Diese Einstellung spiegelt sich
in der überwältigenden Fülle von Verweisen wider, die für dieses
Register zusammengetragen und systematisch geordnet wurden. Indem es
alle Namen und Sachverhalte aufgreift und verknüpft, die unter einem
oder mehreren verschiedenen Stichwörtern behandelt werden, weitet es
den Stichwortbestand beträchtlich aus und erschließt dem Benutzer eine
beeindruckende Fülle von Querverbindungen. Der Registerband des LexMA
dagegen führt leider nicht zu Namen und Begriffen, die kein eigenes
Lemma erhalten haben; man hat sich hier mit den Verweisungen innerhalb
der einzelnen Artikel zu begnügen.
Trotz der Unzulänglichkeiten bei der Erschließung des LexMA durch die
beigefügten Register bleibt festzuhalten, daß mit dem
deutschsprachigen Werk die umfassendste und detaillierteste
Enzyklopädie zum Mittelalter vorliegt. Dank ihrer internationalen
Ausrichtung darf sie auch außerhalb des deutschen Sprachraums den
führenden Platz unter den mediävistischen Nachschlagewerken
beanspruchen. Um so erfreulicher ist es, daß der neue Verlag seit
Oktober eine unveränderte Studienausgabe des LexMA in neun Bänden
(wobei in Bd. 9 der in der Originalausgabe nicht gezählte Registerband
mit enthalten ist) zu einem Preis anbietet, der auch für kleinere
Bibliotheken und nicht zuletzt für Privatleute erschwinglich ist.
Christian Heitzmann
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