Das europäische und byzantinische Mittelalter wird in der Reihe der Dictionnaires aufgrund der Materialfülle in zwei Bänden behandelt, von denen der eine seinen Schwerpunkt auf den Feldern Politik und Gesellschaft findet (522 Artikel), während der andere die Bereiche Literatur und Philosophie mit über 420 Artikeln abdeckt. Wie in der Encyclop‘dia universalis sind auch in den Dictionnaires ausführlichere Artikel mit bibliographischen Angaben zu unterscheiden von kürzeren Einträgen, die keine weiterführenden Hinweise bieten; erstere sind dem neunzehnbändigen Corpus, letztere dem vierbändigen Thesaurus der Enzyklopädie entnommen.
Den weitaus größten Teil der Artikel im ersten Band machen Kurzbiographien weltlicher und geistlicher Fürsten, Artikel zu Dynastien und zu geographischen Einheiten aus. Allerdings werden bei letzteren unter der Ebene der Königreiche nur die bedeutendsten Fürstentümer und Stadtrepubliken berücksichtigt. Von besonderem Wert sind übergreifende Artikel, die prägende Strukturen und langfristige Entwicklungen zusammenfassen (so z.B. Féodalité von G. Duby, Grandes invasions von L. Musset, Habitat seigneurial von M. Bur, Occident médiéval von L. Génicot). Bei diesen Beiträgen zeigen sich die Vorzüge der von der sogenannten Schule der Annales geprägten Sichtweise auf Phänomene der "longue durée".
Auf Verweisungen innerhalb der Artikel wird durchweg verzichtet, doch
ein reichhaltiger Index erfaßt unter übergeordneten Stichwörtern, von
denen viele keinen eigenen Eintrag erhalten haben, die relevanten,
doch verstreut gebotenen Informationen in thematisch verwandten
Artikeln. Allerdings ist auf Lücken aufmerksam zu machen;
beispielsweise wird man unter dem Stichwort Médicis (kein eigener
Artikel) zwar auf die Artikel Albizzi und Strozzi verwiesen, nicht
jedoch auf den wesentlich informativeren zu Florence (république de).[2]
Auf Illustrationen wurde zwar vollständig verzichtet, doch
erfreulicherweise wurde instruktives Kartenmaterial aus der
Originalausgabe übernommen; im Anhang finden sich übersichtliche
Stammtafeln. Leider sind die Literaturhinweise von ganz
unterschiedlicher Aktualität. Zwar finden sich aktuelle Angaben, die
Neuerscheinungen bis zum Jahr 1994 berücksichtigen, doch vielfach
liegt der Schwerpunkt der bibliographischen Angaben auf der Literatur
der fünfziger und sechziger Jahre. Die jüngste Literaturangabe zum
Stichwort Allemagne stammt, von Nachdrucken abgesehen, aus dem Jahr
1967. Eine Ergänzung oder Aktualisierung wurde für die in den
Dictionnaires vorliegende Zusammenstellung von Artikeln offenkundig
nur sehr ungleichmäßig vorgenommen.
Überschneidungen zwischen den beiden Dictionnaires zum Mittelalter
gibt es kaum.[3] Im Band über histoire et société wird von M. Pacaut das
politische Wirken Bernhards von Clairvaux (ohne Literaturangaben)
vorgestellt, bei littérature et philosophie finden sich Teile dieses
Artikels kombiniert mit Ausführungen von M.-M. Davy (mit
Bibliographie). Für Bernhards Werke wird hier übrigens auf die in
Mignes Patrologia latina abgedruckte Ausgabe Mabillons aus dem Jahr
1690 verwiesen; die seit 1977 abgeschlossene kritische Edition von J.
Leclerq, H. Rochais und C.H. Talbot wird ohne Angabe der Herausgeber
lediglich als "im Erscheinen begriffen" (en cours de publication)
genannt. Normalerweise muß man nicht (wie bei Bernhard von Clairvaux),
in beiden Dictionnaires dasselbe Stichwort nachzuschlagen. Da eine
konsequente Abgrenzung zwischen beiden Bänden jedoch nicht möglich
ist, gibt es durchaus Fälle, in denen man beide Bände zu konsultieren
hat. Dies gilt etwa für den Bereich des Reisens, für den im einen Band
im Index unter dem Stichwort Voyageurs sechs, im anderen unter dem
Stichwort Récit de voyage drei Einträge Platz finden.
Der weitaus größte Teil des Bandes zur Literatur- und
Geistesgeschichte besteht aus Artikeln über einzelne Autoren und
Werke, daneben zu einzelnen literarischen Gattungen. Breiten Raum
nehmen in diesem Band islamische Autoren ein, von denen viele das
europäische Mittelalter nachhaltig beeinflußten; als Beispiel seien
nur die umfangreichen Artikel zu Averroes und Avicenna bzw. Averro‹sme
und Avicennisme latin genannt. Auch im Band über Literatur und
Philosophie dient der Index als wichtiger Wegweiser. So findet man
dort etwa zu den Themen Mystique chrétienne, juive und arabe, denen
kein eigener Artikel gewidmet ist, Hinweise auf insgesamt 35
Stichwörter, zum Thema Néo-Platonisme wird man auf 16 Einträge
verwiesen.
Ein Vergleich mit dem vorstehend (IFB 99-1/4-421) besprochenen
Dictionnaire encyclopédique du moyen âge (DE) ergibt ein zwiespältiges
Bild. Der DE umfaßt einen wesentlich größeren Artikelbestand und
bietet zu fast allen Artikeln knappe und aktuelle Literaturangaben.
Allerdings übertreffen die mit bibliographischen Angaben
ausgestatteten ausführlicheren Artikel in den beiden Dictionnaires zum
Mittelater (DMA) die entsprechenden Artikel im DE an Umfang und oft
auch an Informationswert; für die Literaturhinweise im DMA gilt
allerdings, daß sie - sofern vorhanden - zwar umfangreicher, oftmals
aber weniger aktuell als im DE sind.[4] So finden sich beispielsweise
zum französischen König Philipp II. Auguste im DE vier
Literaturangaben (Erscheinungsjahre 1973 bis 1993), zum etwas längeren
Artikel im DMA keine, da dieser Artikel dem Thesaurus der Encyclop‘dia
universalis entstammt. Zu König Philipp IV. dem Schönen dagegen nennt
A. Demurger im DE drei weiterführende Werke (Erscheinungsjahre 1962
bis 1980), während dem wesentlich umfangreicheren Artikel von J.
LeGoff im DMA 19 Hinweise zur Literatur aus den Jahren 1861 bis 1978
(sowie zwei Neuauflagen älterer Werke aus den Jahren 1989 und 1991)
folgen. Zu beachten ist außerdem, daß im DMA eine größere Anzahl von
Personen (besonders Autoren) berücksichtigt ist, die im DE keinen
eigenen Artikel erhalten haben (z.B. Heinrich von Morungen, Heinrich
von Ofterdingen und Heinrich von Veldeke).
Für einen ersten Einblick in die heutige französische Sicht des
Mittelalters leisten indes sowohl DE als auch DMA, die sich vielfach
in willkommener Weise ergänzen, gute Dienste. Sie stellen eine
nützliche Ergänzung zum Lexikon des Mittelalters dar und sollten in
den Lesesälen wissenschaftlicher Bibliotheken ihren Platz finden.
Christian Heitzmann
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