Das von Claus-Dieter Krohn, Patrick von zur Mühlen, Gerhard Paul und
Lutz Winckler, allesamt ausgewiesene Exilforscher, in Zusammenarbeit
mit der Gesellschaft für Exilforschung herausgegebene Handbuch der
deutschsprachigen Emigration 1933 - 1945 will den heutigen Stand der
Exilforschung in einem Band zusammenfassen. Ein leichtes Unterfangen
war dies keinesfalls: So steht neben der vielfach dokumentierten
Wissenschaftsemigration und der Emigration von Schriftstellern und
Künstlern, die Exilerfahrung vieler einzelner, niemals beschriebener
Emigrantenschicksale. Schließlich läßt sich mit dem Begriff der
Emigration, auch wenn nur auf die Zeit von 1933 - 1945 und auf den
deutsch beherrschten Raum bezogen, keineswegs ein einheitliches
Phänomen umschreiben: Der Alija, der jüdischen Masseneinwanderung nach
Palästina, die sich nicht alleine auf diese zwölf Jahre beschränkte,
steht die individuelle Emigration in viele entlegene und zerstreute
Winkel dieser Erde gegenüber. Zudem läßt sich bei den nichtjüdischen
Emigranten die Abgrenzung zwischen freiwilligem Auslandsaufenthalt und
unfreiwilligem Exil nicht immer eindeutig vornehmen: Nicht wenige
deutsche und österreichische Wissenschaftler und Künstler hatten ihr
Heimatland schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme
verlassen,[2] waren dann aber aus politischen Gründen in ihrem
Aufnahmeland verblieben.
Das in über vierjähriger Arbeit entstandene Handbuch hat angesichts
dieser Heterogenität der zur Flucht gezwungenen Personenkreise, der
Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen in den Aufnahmeländern und
der differenzierten Emigrationsmotive von vornherein darauf
verzichtet, Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Vielmehr sollte
die deutschsprachige Emigration durch eine Sammlung von über 100
Einzelartikeln unter den verschiedenen Aspekten dargestellt werden,
ergänzt von jeweils einleitenden Übersichtsartikeln der Herausgeber.
Der Band gliedert sich in sechs, jeweils mehrere Einzelartikel
enthaltende Kapitel: Ein Kapitel zu den Anlässen und Rahmenbedingungen
der Emigration bildet gleichsam eine Einführung, dem sich ein Kapitel
zu den Fluchtländern anschließt. Drei weitere Kapitel widmen sich den
unterschiedlichen Emigrantengruppen: dem politischen Exil, der
Wissenschaftsemigration sowie dem literarischen und künstlerischen
Exil; ein abschließendes Kapitel beschäftigt sich mit der Rückkehr aus
dem Exil sowie der Rezeptionsgeschichte der Exilforschung.
Bei einem so umfassenden Sammelwerk wird sich eine gewisse
Ungleichgewichtigkeit der einzelnen Teile nicht vermeiden lassen. So
mag eingewendet werden, daß das literarische und künstlerische Exil,
dem sich alleine 17 Artikel widmen, oder die Wissenschaftsemigration,
mit der sich 19 Artikel befassen, überproportional ausfällt, im
Vergleich zu dem Anteil von Künstlern und Wissenschaftlern an der
Gesamtzahl der Emigranten. Wohingegen sich mit Recht vorbringen läßt,
daß die massenweise Vertreibung von Künstlern und Wissenschaftlern
gerade ein Spezifikum der Nazi-Herrschaft darstellt; dazu kommt, daß
dieser Bereich bisher am besten erforscht ist.
Wie breit das Spektrum der Aufnahmeländer war, zeigt das 2. Kapitel,
das 36 Ländern oder Ländergruppen jeweils einen eigenen Artikel
widmet; in dieser Hinsicht dürfte nahezu Vollständigkeit erreicht
worden sein. Eine gewisse Ungleichgewichtigkeit fällt allerdings auch
hier auf: Der Artikel zu Palästina/Israel fällt mit 9 Spalten knapper
aus als die Einträge zu Südafrika oder zu Brasilien, die mit jeweils
etwa 6000 aufgenommenen deutschsprachigen Emigranten in der Bedeutung
weit hinter Palästina zurückfallen. Shanghai, das für etwa 20.000
überwiegend deutschsprachige Emigranten zur letzten Zufluchtsstätte
wurde, wird in einem Artikel unter Ostasien rubriziert - auch dies
erscheint nicht ganz gerechtfertigt, wenn zugleich dem als
Aufnahmeland kaum in Erscheinung getretenen Indien ein eigener Artikel
zugestanden wird. Ein Mangel läßt sich darin jedoch kaum erblicken, im
Gegenteil: Die von den Herausgebern angestrebte Gesamtschau des
Emigrationsphänomens wird durch die vergleichsweise ausführliche
Beschreibung der weniger bekannten Emigrationsziele unterstrichen. An
Literatur zu den klassischen Aufnahmeländern herrscht in der Tat kein
Mangel, so daß auf eine umfassende Darstellung in diesem Band guten
Gewissens verzichtet werden konnte.
Eine gut ausgewogene Gesamtschau kann dem Kapitel über die
Wissenschaftsemigration attestiert werden: Neben 17
Wissenschaftsdisziplinen wird den von der Vertreibung besonders
betroffenen Vertretern der "Kritischen Theorie" und des "Wiener
Kreises" jeweils ein eigener Artikel gewidmet. Zu den meisten
Wissenschaftsdisziplinen sind in den letzten Jahren sowohl
monographische Darstellungen als auch biographische Lexika
erschienen,[3] so daß das vorliegende Handbuch eine erste summarische
Gesamtübersicht über den augenblicklichen Forschungs- und
Publikationsstand bieten kann. Ähnliches gilt für das künstlerische
und literarische Exil,[4] wobei hier die Gliederung, die jeweils eigene
Kapitel für Roman, Drama, Lyrik, Kinder- und Jugendliteratur aufweist,
im Vergleich zu der Gesamtkonzeption des Handbuches ausgesprochen fein
ausfällt.
Für die Recherche zu emigrationsbezogenen Themen dürfte der
Abschlußartikel zu den weit verstreuten Quellen der Exilforschung
besonders instruktiv sein.
Ein Sammelwerk mit über hundert Einzelbeiträgen kann weder ein
spezielles noch ein enzyklopädisches Lexikon ersetzen, doch wird durch
das mitgegebene Registerwerk dem Handbuch ein gewisser
Nachschlagewerkcharakter verliehen. Das Personen- und das
Institutionenregister haben mit Sicherheit eine nutzbringende
Erschließungsfunktion, wenngleich für biographische Recherchen
regelmäßig das Standardwerk von Roeder/Strauss[5] mit seinen achttausend
Biographien heranzuziehen ist. Dagegen scheint das geographische
Register eher ein Zufallsprodukt der Textverarbeitung zu sein. So
wirkt die Verweisung von Neuengamme (Konzentrationslager) auf den
Artikel über die Romanistik und von dort auf den Romanisten Percy
Gothein, der dort als einer von vielen zu Tode kam, etwas zufällig
dahingeworfen; gleiches gilt für eine ganze Reihe anderer
geographischer Stichwörter.
Auf ein ausführliches Literaturverzeichnis, das wenn es
Vollständigkeit anstreben wollte, den Umfang des vorliegenden Bandes
leicht verdoppelt hätte, wurde ausdrücklich verzichtet. Stattdessen
wurde dem Handbuch eine knappe, 7 Seiten umfassende
Auswahlbibliographie mitgegeben, die aufgrund ihrer Übersichtlichkeit
einer umfassenden Bibliographie vorzuziehen ist. Die einzelnen Artikel
geben dagegen Hinweise auf Spezialliteratur zum jeweils behandelten
Thema, wobei auch hier eine weitgehende Beschränkung auf die
grundlegende Literatur erfolgt.
Angesichts der Bedeutung der Emigrationsgeschichte kann die
Anschaffung des Handbuches nicht nur jeder wissenschaftlichen, sondern
auch jeder öffentlichen Bibliothek empfohlen werden. Dem Handbuch ist
die in der Tat nicht einfache Aufgabe geglückt, die deutschsprachige
Emigration von 1933 - 1945 in allen wesentlichen Aspekten zu behandeln
und dabei dennoch ein Werk zu schaffen, das durch seine leichte
Lesbarkeit ein breites Publikum ansprechen wird und dabei noch zu
einem akzeptablen Preis erhältlich ist.
Klaus-Rainer Brintzinger
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