Als erstes gab Schlögel 1994 Beiträge über die fünfzehn wichtigsten
Zentren der Emigration und über "Die Bibliographien russischer
Emigrantenveröffentlichungen" heraus. Zum Teil hat er Autoren in den
jeweiligen Ländern gewonnen, z.B. für die russische Emigration in
Lettland Jurij Abyzov (Riga), Autor eines biobibliographischen
Lexikons der russischen Druckwerke in Lettland 1917 - 1944,[1] oder für
die Fernost-Emigration die in Harbin geborene Olga Bakich, Toronto,
die, wie das faktenreiche Kapitel zeigt, sich auf diesen Bereich
spezialisiert hat. Donco A. Daskalov, Sofia, gab den Überblick über
das Schicksal der Russen, die es nach Bulgarien verschlagen hatte.
Schlögel selbst übernahm das "Russische Berlin", dem er inzwischen ein
eigenes Buch widmete.[2]
Die bibliographische Erschließung dieses Bandes und auch der beiden
folgenden ist unzureichend. Zwar werden die Darstellungen von Zentren
der Emigration durch einen Beitrag von Mark Kulikowski über
einschlägige Bibliographien ergänzt, der viele lohnende Hinweise und
Kommentare enthält, doch eine übersichtliche Aufführung der
Einzeltitel fehlt. Der Benutzer ist auf die jeweiligen Anmerkungen und
eine kleine, alphabetisch, nicht systematisch, geordnete
Auswahlbibliographie angewiesen, die z.B. im Bereich der Literatur auf
Zufallsartikel über einzelne Autoren verweist, in der gleichwohl
vorhandene größere Überblicke über die Emigration jedoch fehlen. Es
ist für die bibliographische Schwäche typisch, daß Arbyzovs erwähntes
Lexikon russischer Werke in Lettland nicht in der Originalsprache
zitiert wird (S. 447).
Seit dem Erscheinen des Bandes 1994 sind ergänzende Veröffentlichungen
zu weiteren Zentren der Emigration erschienen, die z.T. in der
Einführung zur Chronik genannt werden. Mit dem Zentrum Estland hat
sich intensiv Sergej Isakov in Tartu befaßt.[3] Über die Russen in
England hat etwa gleichzeitig Ol'ga A. Kaznina aus Moskau geforscht
und 1997 das erste Buch vorgelegt.[4] Sie beschreibt u.a. die
Emigrantenorganisationen, die Schicksale der nach England emigrierten
Mitglieder der Zarenfamilie, der Politiker (P. N. Miljukov, A. F.
Kerenskij) und Schriftsteller, schildert die Rolle der Orthodoxie,
"die in den zwanziger und dreißiger Jahren erheblichen Einfluß auf das
religiöse Leben Englands ausübte", bezieht sogar Engländer ein, die
eine wichtige Rolle für die Kenntnis Rußlands gespielt haben. Kaznina
greift auch vor den von Schlögel erfaßten Zeitraum, 1917 - 1941. Willy
Birkenmaier hat in der Zwischenzeit das "russische Heidelberg"
aufgearbeitet und sowohl einen historischen Überblick als auch ein
Personenlexikon für die Zeit von 1815 und 1914 ausgearbeitet.[5] Eine
Darstellung der Tätigkeit russischer Emigranten der ersten Sowjetzeit
wie Dmitrij Tschizewski als Hochschullehrer und Rufina Sukoffski als
Lektorin, die mit Nicolai von Bubnoff über lange Zeit in der
Neckarstadt die Russistik prägten, steht noch aus. Ergänzungen finden
sich auch in dem inzwischen erschienenen Buch Russische Spuren in
Bayern. Dort stehen u.a. Beiträge und Dokumentationen zu so
bedeutenden Emigranten wie dem Schriftsteller und
Universitätsprofessor F‰dor Stepun, dem Komponisten Sergej Prokof'ev
und dem Lyriker und Übersetzer Henry von Heiseler.[6] So sollte auch
dieser Band, der von Tjutcev bis in die Gegenwart reicht, bei
Forschungen einbezogen werden.
In Schlögels zweitem Band, Russische Emigration in Deutschland 1918
- 1941, sind 34 Beiträge über das politische und wirtschaftliche, auch
das kulturelle Leben zusammengefaßt. Auch er zeichnet sich durch die
Beteiligung von Fachleuten in aller Welt aus. Drei Kapitel vereinen
vornehmlich historisch-politische Beiträge. Michael Hagemeister legt
dort detaillierte Forschungen über Gregor Schwartz-Bostunitsch vor,
der seine antibolschewistische Haltung peinlich in den Dienst der
Nazis stellte, 1944 SS-Standartenführer wurde und dessen Schriften
heute in Rußland von Kreisen nachgedruckt werden, die dem Okkultismus
nahestehen. Im Kapitel über den "Russischen Geist" in deutscher
Umgebung finden sich Artikel über die Historiker Otto Hoetzsch und
Karl Stählin, den Kulturphilosophen Nicolai von Bubnoff und über
"Dornach als Pilgerstätte der russischen Anthroposophen", doch ein
Kapitel über den in diesem Kontext wichtigsten - F‰dor Stepun
- fehlt.[7]
Die Auswahl der Persönlichkeiten, denen im Bereich von Kultur und
Literatur eigene Kapitel als "Emigranten" gewidmet werden, war wohl
- so Reinhard Lauer - "dem Spiel des Zufalls überlassen":[8] Maksim
Gor'kij und Ilja Erenburg lebten zwar kurzfristig in Deutschland,
waren aber niemals politische Emigranten, sondern sowjetische
kommunistische Schriftsteller, die sich im Auftrag oder mit
Genehmigung der Sowjetregierung zeitweilig in Berlin aufhielten.
Andrej Belyj - vom guten Kenner Thomas R. Beyer vorgestellt - kehrte
bald in die Sowjetunion zurück. Vladimir Nabokov ist zwar nicht
typisch für "die russische Emigration in Deutschland", aber er lebte
ein Jahrzehnt in Berlin, und Annelore Engel-Braunschmidt untersucht,
ob und wo Berlin in seinen dort entstandenen Werken erkennbar wird.
Die getroffene Auswahl ist nicht gut. Als Emigranten waren jene
typisch, die der Verfolgung durch die Bolschewiken entkommen waren und
meist Anfang der zwanziger Jahre weiter nach Paris emigrierten. Sie
prägten das kurzlebige "Russische Berlin".[9] Nicht einmal ein Überblick
über diese Gruppe hätte gegeben werden müssen. Diese Lücke füllte 1999
Thomas Urban in der umfassenden Einleitung zu seinem Buch über
Nabokov[10] und Schlögel im eigenen Buch. Der Inhalt der
Schriftsteller-Artikel selbst ist auf dem guten Niveau des ganzen
Buches. Sie erweitern das Wissen um die Emigration lediglich an
untypischen Beispielen. Einige Kultur-Beiträge sind besonders zu
begrüßen, so der über Julij Ajchenval'd von A. I. Rejtblat, der als
erster diesen Literaturwissenschaftler als "eine der
bemerkenswertesten Figuren der russischen Emigrantenkolonie in Berlin"
näher erforscht hat, dann der von Michaela Böhmig über das Russische
Emigrantentheater in Berlin, für das sie seit ihrer Monographie als
vorzügliche Spezialistin bekannt ist.[11] Vom besten Kenner der
Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, Georg (Gernot)
Seide[12] von der Münchner Diözese, stammt der Beitrag über deren
Gemeinden. Ähnlich gut schrieb die für den Bereich des russischen
Films ausgewiesene Oksana Bulgakova.[13]
Die von Schlögel und drei Mitarbeitern vorgelegte Chronik russischen
Lebens in Deutschland 1918 - 1941 verzeichnet im Hauptteil 8109
Veranstaltungen russischer Emigranten, die 1918 bis 1941 in Berlin
stattfanden. Ein zweiter Teil, der auf dem Titelblatt nicht genannt
ist, enthält eine selbständige Ausarbeitung von Gottfried Kratz,
Oberbibliotheksrat in Münster, die sämtliche 242 russischen Verlage
und 33 russischen Druckereien erfaßt, die in diesem Zeitraum in
Deutschland tätig waren. In anderem Kontext hatte Kratz eine
Verlagsbeschreibung für den Zeitraum bis 1928 bereits 1987
veröffentlicht.[14] Die neue, teils erweiterte, teils verkürzte Fassung
bildet - auch durch die Kommentare - einen besonders wertvollen Teil
der Chronik. Fünf Register sollen die Benutzung der Faktensammlung
ermöglichen. Das Organisationsverzeichnis faßt die Institutionen
zusammen, welche die Veranstaltungen durchführten, z.B. Akademiceskaja
Gruppa, Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas, Klub Pisatelej,
Literaturno-chudozestvennyj Kruzok, Russisch-orthodoxe Kirche oder
Sojuz Rossijskich/russkich Vracej. Das Ortsverzeichnis - ohne Berlin
- umfaßt nur eine Seite und verzeichnet z. B. für Baden-Baden nur eine
Veranstaltung in der Kirche, Bad Ems und Wiesbaden, wo sicher ebenso
wie in Berlin jährlich Ostergottesdienste stattfanden, fehlen ganz.
Dementsprechend ist für Berlin ein eigenes Lokalitätenverzeichnis
zusammengestellt worden, aus dem sich Hauptzentren wie das Café
'Leon', das Logenhaus, der Schubertsaal oder das
Werner-Siemens-Realgymnasium herausheben. Das Adressenverzeichnis
bezieht sich nur auf Berlin. Das Personenverzeichnis verweist bei den
in der Chronik genannten Namen auf die laufende Nummer. Ein
umfassendes Namenregister fehlt. Auf diese Weise sind der von G. Kratz
erarbeitete Verlagsteil und die ebenfalls an Namen reiche Einleitung
im Register nicht erschlossen. Der Sinn der gemeinsamen
Veröffentlichung von Chronik und Verlagsdokumentation hätte in einer
gemeinsamen Aufschlüsselung gelegen, und es wäre für das Buch kein
Nachteil gewesen, wenn es deshalb einen Monat später erschienen wäre.
Der Verlagsteil hätte unbedingt in die Register integriert werden
müssen.
Die Einleitung der Herausgeber informiert über Quellen und
Forschungslage. Jedoch die umfangreiche Sekundärliteratur steht
unsystematisch und mit Wiederholungen in Anmerkungen, nicht in einer
übersichtlichen Bibliographie. Das ist nicht benutzerfreundlich. Dem
entspricht es, daß im Chronikteil zwar bei jeder Maßnahme die
"Fundstelle" verzeichnet ist, bei der Chronik aber kein Verzeichnis
der Siglen wie Böhmig, Boyd oder Russische Autoren steht. (Es ist
versteckt in Anmerkung 25 der Einleitung.)
Der Inhaltsreichtum der drei Bände ist trotz der Unausgewogenheit
höchst erfreulich - vor allem für Historiker, weniger für
Literaturwissenschaftler. Sie bieten künftiger Forschung neben
Bekanntem viel neu Erschlossenes. Jedoch war die redaktionelle Arbeit
schwach, und mit wenig zusätzlichem Aufwand hätte sich ihr Wert
erheblich erhöhen lassen. Vielleicht entschließt man sich zu einer
CD-ROM-Ausgabe; sie könnte die oft mühsam gesammelten Fakten in guter
Weise aufschlüsseln.
Wolfgang Kasack
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