Ausgangspunkt für den Zeitpunkt der Ausarbeitung war die gewandelte politische Lage, die neue "Normalität in den Beziehungen zwischen zwei europäischen Nationen, die sich in diesem Jahrhundert Furchtbares angetan hatten" (S. 8). Das Buch ist auf Berlin konzentriert, als Knotenpunkt der deutsch-russischen Beziehungen, als "Wendepunkt für das Schicksal unzähliger Deutscher und Russen", ist aber nicht darauf beschränkt. Schlögel bietet Beispiele für drei Gruppen Russen in Berlin: die etwa 300.000 Emigranten nach 1917, die sowjetischen "Ostarbeiter" 1941 - 1945 und die Rotarmisten danach (S. 9). In seinen "Geschichten, die für sich stehen" (S. 14), erzählt er von "Emigranten, Agenten, Diplomaten, Militärs, Literaten, Funktionären, Professoren ..., von Russen, Deutschen, Juden."
Die ersten beiden Kapitel geben - dem Titel entsprechend - am Beispiel der Bahnhöfe und Eisenbahnverbindungen einen Überblick über die Epoche. Im dritten geht Schlögel auf Harry Graf Kesslers Tagebücher 1918 - 1937 (Frankfurt/Main, 1982) ein, "dem Aufschlußreichsten und Aufregendsten über die Berliner Gesellschaft der zwanziger Jahre" (S. 58). Er schildert die Rolle der Sowjetischen Botschaft und der Komintern als der "ambitionierten Gegen- und Parallelveranstaltung zum Völkerbund" (S. 153), hat anschauliche Zitate namhafter Schriftsteller über Berlin ausgewählt und um treffende eines unbekannten Alexander Kareno ergänzt, eines emigrierten russischen Hochschulprofessors, der 1926 - 1929 als Taxifahrer Berlin und seine Menschen intensiv kennenlernte. Neben der Welt der Diplomaten, der Spione, der mit der Sowjetarmee zusammenarbeitenden Reichswehr und anderen Bereichen stellt Schlögel auch Auftreten und Entlarvung der "Zarentocher" Anastasija dar und schließt mit einer Hommage an den Historiker Otto Hoetzsch, dessen "Persönlichkeit und Anstrengung es zu verdanken ist, wenn Berlin nach dem Ersten Weltkrieg zum weltweit anerkannten Zentrum der Rußland- und Osteuropastudien wurde" (S. 319).
Ein Namenregister erleichtert die wissenschaftliche Nutzung, aber
leider fehlen die Namen aus der Danksagung und der Bibliographischen
Notiz, darunter Wladimir Lindenberg,[1] der Schlögel aus den über sieben
Jahrzehnten seiner Erfahrung als Emigrant beriet, Dietrich Geyer, der
das ganze Manuskript als Fachmann durchsah und Fritz Mierau, der mit
seiner Edition wesentliche Vorarbeit leistete.[2] Die Nennung der
Literatur ausschließlich in Anmerkungen und in der Bibliographischen
Notiz ist weniger förderlich, zumal manche Kapiteltitel kaum
Orientierung ermöglichen, denn sie entsprechen der journalistischen
Tendenz des Titels "Ostbahnhof". Insgesamt machen die Vielfalt der
Themen, der Reichtum an wissenschaftlicher Information im Einzelfall,
die anschauliche Darstellungsweise und auch die zahlreichen Bilder das
Buch zu einem hervorragenden Standardwerk der deutsch-russischen
Beziehungen und der russischen Emigration.
Wolfgang Kasack
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