Bibliotheksservice-Zentrum (BSZ) Baden-Württemberg // Südwestdeutscher Bibliotheksverbund
Rezension aus:
Informationsmittel für Bibliotheken (IFB) 7(1999) 1/4
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Berlin, Ostbahnhof Europas


99-1/4-465
Berlin, Ostbahnhof Europas : Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert / Karl Schlögel. - 1. Aufl. - Berlin : Siedler, 1998. - 365 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 3-88680-600-6 : DM 68.00
[5509]

Karl Schlögel hat den drei von ihm herausgegebenen und vorstehend besprochenen Werken über die russische Emigration in Deutschland eine eigene Darstellung hinzugefügt. Das Buch besteht aus 15 relativ selbständigen Artikeln und betrifft - abweichend vom Titel - weniger das gesamte "Jahrhundert" als vielmehr die Jahre 1917 - 1945 (S. 9). Wenn die etwas reißerische Formulierung Ostbahnhof Europas zur Folge hat, daß dieses Buch nicht nur als Fachliteratur von Osteuropahistorikern gekauft wird, sondern auch von einer etwas breiteren, an der Geschichte Deutschlands und Rußlands interessierten Schicht, dann werden auch diese Leser nicht enttäuscht sein. Schlögel verbindet nämlich drei wesentliche Elemente: neue, durch sein Emigrations-Forschungsprojekt ermöglichte Kenntnisse, Zusammenfassungen der jeweils gewählten Thematik aufgrund der internationalen Forschung und einen flüssigen, lebendigen Stil. Sein Werk belehrt, informiert und unterhält.

Ausgangspunkt für den Zeitpunkt der Ausarbeitung war die gewandelte politische Lage, die neue "Normalität in den Beziehungen zwischen zwei europäischen Nationen, die sich in diesem Jahrhundert Furchtbares angetan hatten" (S. 8). Das Buch ist auf Berlin konzentriert, als Knotenpunkt der deutsch-russischen Beziehungen, als "Wendepunkt für das Schicksal unzähliger Deutscher und Russen", ist aber nicht darauf beschränkt. Schlögel bietet Beispiele für drei Gruppen Russen in Berlin: die etwa 300.000 Emigranten nach 1917, die sowjetischen "Ostarbeiter" 1941 - 1945 und die Rotarmisten danach (S. 9). In seinen "Geschichten, die für sich stehen" (S. 14), erzählt er von "Emigranten, Agenten, Diplomaten, Militärs, Literaten, Funktionären, Professoren ..., von Russen, Deutschen, Juden."

Die ersten beiden Kapitel geben - dem Titel entsprechend - am Beispiel der Bahnhöfe und Eisenbahnverbindungen einen Überblick über die Epoche. Im dritten geht Schlögel auf Harry Graf Kesslers Tagebücher 1918 - 1937 (Frankfurt/Main, 1982) ein, "dem Aufschlußreichsten und Aufregendsten über die Berliner Gesellschaft der zwanziger Jahre" (S. 58). Er schildert die Rolle der Sowjetischen Botschaft und der Komintern als der "ambitionierten Gegen- und Parallelveranstaltung zum Völkerbund" (S. 153), hat anschauliche Zitate namhafter Schriftsteller über Berlin ausgewählt und um treffende eines unbekannten Alexander Kareno ergänzt, eines emigrierten russischen Hochschulprofessors, der 1926 - 1929 als Taxifahrer Berlin und seine Menschen intensiv kennenlernte. Neben der Welt der Diplomaten, der Spione, der mit der Sowjetarmee zusammenarbeitenden Reichswehr und anderen Bereichen stellt Schlögel auch Auftreten und Entlarvung der "Zarentocher" Anastasija dar und schließt mit einer Hommage an den Historiker Otto Hoetzsch, dessen "Persönlichkeit und Anstrengung es zu verdanken ist, wenn Berlin nach dem Ersten Weltkrieg zum weltweit anerkannten Zentrum der Rußland- und Osteuropastudien wurde" (S. 319).

Ein Namenregister erleichtert die wissenschaftliche Nutzung, aber leider fehlen die Namen aus der Danksagung und der Bibliographischen Notiz, darunter Wladimir Lindenberg,[1] der Schlögel aus den über sieben Jahrzehnten seiner Erfahrung als Emigrant beriet, Dietrich Geyer, der das ganze Manuskript als Fachmann durchsah und Fritz Mierau, der mit seiner Edition wesentliche Vorarbeit leistete.[2] Die Nennung der Literatur ausschließlich in Anmerkungen und in der Bibliographischen Notiz ist weniger förderlich, zumal manche Kapiteltitel kaum Orientierung ermöglichen, denn sie entsprechen der journalistischen Tendenz des Titels "Ostbahnhof". Insgesamt machen die Vielfalt der Themen, der Reichtum an wissenschaftlicher Information im Einzelfall, die anschauliche Darstellungsweise und auch die zahlreichen Bilder das Buch zu einem hervorragenden Standardwerk der deutsch-russischen Beziehungen und der russischen Emigration.

Wolfgang Kasack


[1]
Zu dem Berliner Emigranten Wladimir Lindenberg (1902 - 1997) vgl. Schicksal und Gestaltung : Leben und Werk Wladimir Lindenbergs / Wolfgang Kasack. - München : Reinhardt, 1987. - 299 S. : Ill. - Darin das Kapitel In Berlin (S. 114). (zurück)
[2]
Russen in Berlin : Literatur, Malerei, Theater, Film 1918 - 1933 / hrsg. von Fritz Mierau. - 3., erw. Aufl. - Leipzig : Reclam, 1991. - XXII, 614 S. : Ill. - (Reclam-Bibliothek ; 1196). - ISBN 3-379-00119-8. (zurück)

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