Auf derselben Linie liegt die schon früher angebahnte Distanzierung von der amtlichen Vorschrift in zahlreichen Fällen wie aufsehenerregend, glückbringend usw. Sie werden wieder zusammengeschrieben im Falle von Steigerung oder Erweiterung. Das ist zwar immer noch nicht ganz richtig gesehen, weil der prädikative Gebrauch ausgespart wird (die Kredite wurden Not leidend bleibt grammatisch falsch, auch wenn die Neuregelung es verbindlich vorschreibt), aber im großen und ganzen ist der alte Zustand nun wiederhergesetellt, so daß der hier verwendete Rotdruck (für "Neuschreibung") keine Berechtigung mehr hat.
Äußerst irritierend ist auch hier, daß die Wortarten noch ebenso zugewiesen werden, als habe es die Neuschreibung mit ihren - wenn auch falschen - grammatischen Implikationen gar nicht gegeben. So soll Aufsehen erregend immer noch "Adjektiv" sein, Leid (in Leid tun) "Adverb", ebenso Abend in heute Abend usw., obwohl doch die Reformer die Großschreibung ausdrücklich damit begründen, daß es sich hier um Substantive handele.
Die Silbentrennung wird immer weiter getrieben: Bläu-epilz, Breake-ven usw., und weil manche ungemein häufig vorkommenden Präfixe jetzt jeweils eine weitere Trennstelle haben (hi-nein, ü-ber), füllt sich Spalte um Spalte mit mehr Rotgedrucktem als in jedem anderen Wörterbuch. Daß weder die Druckmedien noch sonst irgend jemand von diesen sinnstörenden und völlig überflüssigen Trennungen Gebrauch macht, wird überhaupt nicht berücksichtigt.
Mehr noch als die anderen Wörterbücher hat dieses neueste Werk den Charakter einer Übergangslösung, denn die auf jeder Seite ins Auge fallenden Abstrusitäten zwingen nun wohl jedermann zu der Einsicht, daß es so nicht bleiben kann.
Fazit
Die neuen Wörterbücher spiegeln nur wider, was alle gebildeten
Menschen deutscher Zunge seit Jahren wissen: Die Neuregelung der
deutschen Rechtschreibung ist selbst nach dem Urteil ihrer Schöpfer
nicht haltbar, an ihrem Rückbau wird bereits seit längerem gearbeitet.
Die Nachrichtenagenturen versuchen, sich eine gemeinsame
Hausorthographie zu erarbeiten, die weder mit der bisherigen noch mit
der Neuregelung identisch ist. Damit ist der beklagenswerte Zustand
des 19. Jahrhunderts wiederhergestellt, aus dem die von Konrad Duden
mitgestaltete Einheitsorthographie der allseits begrüßte Ausweg war.[1]
Wie auch immer die "Zukunftsorthographie" aussehen wird - sie dürfte
näher bei der bisherigen als bei der reformierten liegen. Vom Kauf
eines reformierten Wörterbuchs oder irgendeines anderen Buches in
Neuschreibung
ist unter diesen Umständen dringend abzuraten. Denn wer bei der
bisherigen Rechtschreibung bleibt, schreibt auf jeden Fall richtig und
für die nächsten Jahre auch "korrekt".
Anhang: Zur Fremdwortschreibung nach der Rechtschreibreform
Die sehr weitreichenden ursprünglichen Pläne zur Eindeutschung der
Fremdwörter scheiterten am Einspruch der Kultusminister. Ganz mochten
die Reformer zwar nicht darauf verzichten, doch beschränken sich die
Neuschreibungen zum großen Teil auf Wörter wie Necessaire (Nessessär),
die für die Schule keinerlei Bedeutung haben oder sogar völlig obsolet
sind wie Frigidaire (Frigidär). Während der Reformer Augst immerhin
noch für eine ganze Reihe englischer Wörter die Verdoppelung der
Konsonantenbuchstaben als Zeichen der Vokalkürze einführen wollte,
verbreitete sich die Einsicht, daß es nicht gerade im Zuge der Zeit
liege, fitt, Flopp, Hitt usw. oder gar Bopp (statt Bob) zu schreiben.
So ist praktisch nur Tipp übriggeblieben. Einige längst übliche
Eindeutschungen wurden sogar rückgängig gemacht; zum Beispiel soll
Gräkum zugunsten von Graecum aufgegeben werden.
Das Praxiswörterbuch von Duden bevorzugt bei Fremdwörtern aus lebenden
Sprachen grundsätzlich die fremde Schreibweise. Die
Nachrichtenagenturen wollen sich diesem Brauch anschließen, der
übrigens mit dem übereinstimmt, was sich die vielsprachige Schweiz von
vornherein ausbedungen hat.
Eine Veränderung, deren Reichweite noch gar nicht recht abzusehen ist,
betrifft die Groß- und Kleinschreibung bei mehrteiligen Fremdlexemen.
Während hier bisher nur das erste Wort groß und alles andere klein
geschrieben wurde (Ultima ratio, Political correctness, Eau de
toilette, Viola d'amore, Herpes zoster usw.) - eine bemerkenswert
einfache Regel, von der die Praxis nur bei manchen englischen
Ausdrücken abwich -, soll nun jedes Substantiv auch im Inneren der
fremden Wendung groß geschrieben werden. Abgesehen von der erheblich
gestiegenen Anforderung an die Kenntnis fremder Sprachen (bisher hat
noch kein Wörterbuchmacher erkannt, daß es nach der neuen Regel Herpes
Zoster heißen muß!), ist es widersinnig, zwar die Substantive der
deutschen Großschreibung, nicht aber die Adjektive der deutschen
Kleinschreibung anzupassen. Es müßte ja konsequenterweise ultima
Ratio, dolce Vita usw. heißen. Übrigens schreiben auch alle neuen
Wörterbücher - wie bisher - L'art pour l'art statt korrekt L'Art pour
l'Art; nur das ÖWB beläßt es beim gänzlich unintegrierten Zitatwort
l'art pour l'art, was natürlich ebenfalls zulässig ist.
Besonders durchgreifend soll die Silbentrennung verändert werden. Hier
werden vom Rechtschreib-Duden sowie vom DUW und Bertelsmann-Wahrig
alle Möglichkeiten, auch die absurdesten, ausgereizt. Das
Praxiswörterbuch verabschiedet sich zwar weitgehend von diesem
Radikalprogramm, verfährt aber im übrigen so inkonsequent, daß das
Ergebnis keinesfalls befriedigen kann. Diese seltsame Praxis beruht
offenbar auf der Überlegung, daß die altsprachlichen Kenntnisse im
gleichen Maße zurückgehen wie der altsprachliche, besonders der
Griechischunterricht an unseren Schulen. Diese Schlußfolgerung ist
jedoch falsch. Durch die Internationalisierung, die Fachsprachen und
die ohnehin in der deutschen Bildungssprache ungemein produktive
Lehnwortbildung werden zahlreiche lateinische und griechische
Wortelemente immer weiter verbreitet. Während vor hundert, ja noch vor
fünfzig Jahren nur ein verschwindender Teil der Bevölkerung allenfalls
wußte, was öko- oder nano- etwa bedeuten, wissen oder ahnen dies heute
breiteste Kreise. Homöostase wird zutreffend erklärt als
Zusammensetzung aus gr. homoios und Stase (mit Verweisung auf diesen
Eintrag). Warum aber wird dann die Trennung Homöos-tase angegeben?
(DUW s.v., ebenso homoös-tatisch, obwohl statisch natürlich ebenfalls
lemmatisiert ist.) Die präfigierend gebrauchten griechischen
Präpositionen werden durchweg erklärt, so daß nicht einzusehen ist,
warum zwischen Dutzenden von organisch getrennten Verbindungen mit
Meta plötzlich die Metas-tase auftaucht (DUW, Praxiswörterbuch; ebenso
metas-tasieren, metas-tatisch). Aber immer wenn sich zufällig die
Buchstabenverbindung st ergibt, scheinen alle morphologischen
Intuitionen schlagartig auszusetzen. Das DUW gibt a-dä-quat, im
Praxiswörterbuch bleibt immerhin adä-quat übrig (da die Abtrennung
einzelner Buchstaben nicht mehr vorgesehen ist), aber auch dies ist
kein befriedigendes Ergebnis. Wer das Wort Hypäthraltempel gebraucht,
dürfte die Trennung Hy-päth-ral-tem-pel nicht nötig haben (DUW). Das
lateinische in dürfte hinreichend bekannt sein. Warum trennt das DUW
es durchweg richtig ab (in-stigieren usw.), nur nicht bei Ins-tinkt?
Das Praxiswörterbuch nimmt diese Trennung zurück, bleibt allerdings
bei Urins-tinkt. Epik-lese steht neben Kata-klase. Mag die Trennung
nach Sprechsilben auf den ersten Blick eine "Erleichterung" sein
(natürlich nur für den Schreibenden, an den Leser denkt niemand,
obwohl doch letzten Endes das Schreiben nur um seinetwillen da ist),
so verflüchtigt sich dieser Eindruck bei genauerem Hinsehen. Denn
diese Trennung vermehrt den Lexembestand um zahlreiche, noch dazu
sinnfreie Gebilde und erhöht damit die Gedächtnisanforderungen. Es
gibt jetzt nämlich nicht nur den allenfalls zu memorierenden
Anthropus, sondern den Kanthropus (Pithe-kanthropus), den Nanthropus
(Si-nanthropus) und den Lanthropus (Phi-lanthrop). Ebenso die Narchie,
Garchie und Rarchie (aus Monarchie, Oligarchie und Hierarchie). Das
Erstaunlichste an der neuen Silbentrennung ist die antiquierte
Voraussetzung, daß es vor allem um Erleichterungen für den mühsam vor
sich hin syllabierenden Schüler oder "Wenigschreiber" gehe. In
Wirklichkeit wird heute fast nur noch am Computer getrennt, und da
gibt es längst Trennprogramme, die mit Fremdwörtern keine
Schwierigkeiten haben. Sie trennen auch Symptom richtig, so daß es
absurd wäre, hier die stümperhafte Trennung Symp-tom
einzuprogrammieren, die das Praxiswörterbuch empfiehlt (zwischen
lauter richtig analysierten Wörtern, die das Präfix sym absichern). Da
die Fachleute solche laienhaften Trennungen niemals akzeptieren
werden, werden sie stets ein Zeichen der Ungebildetheit sein und haben
daher neben den besseren Lösungen keine Überlebenschance.
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